Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
über den Hauptmarkt, und Paul war sich sicher, dass in diesem Moment etliche Zuhörer zu Tränen gerührt nach ihren Taschentüchern griffen. Das Ganze war der größte Kitsch der Weihnachtszeit, aber die vielen wonnevoll rosigen Gesichter, der Dunst aus gegrillten Bratwürsten und gebrannten Mandeln, der tiefe Frieden, den der Schnee der Stadt aufdrückte, all das ging auch an Paul nicht spurlos vorbei.
»In jedem Jahr, vier Wochen vor der Zeit, da man den Christbaum schmückt und sich aufs Feiern freut, ersteht auf diesem Platz, der Ahn hat’s schon gekannt, was ihr hier seht, Christkindlesmarkt genannt.«
Paul legte einen Tausender-Film ein. Das extrem empfindliche Material in Kombination mit seinem lichtstarken Teleobjektiv würde ihm exzellente Fotos von den Menschenmassen liefern. Das war es ja, was sein Auftraggeber bestellt hatte: Menschen, die Begeisterung ausstrahlen. Menschen, die bezaubert sind von Nürnberg. Wenn Paul solche Fotos beschaffen konnte, dann hier und jetzt mit vier- oder fünftausend Christkindfans zu seinen Füßen. Er legte seine Nikon an und genoss den Adrenalinkick.
»Dies Städtlein in der Stadt, aus Holz und Tuch gemacht, so flüchtig, wie es scheint, in seiner kurzen Pracht, ist doch von Ewigkeit.«
Er wechselte die Patrone zum fünften Mal. Der Fremdenverkehrsamtsleiter dürfte zufrieden sein. Zwei, drei Fotos verschwendete Paul dann doch für seine Kollegen auf dem kleinen Holzpodest, die sich abmühten, das Christkind möglichst ohne störende Schatten ins Visier zu bekommen, aber Probleme mit dem stärker werdenden Schneefall hatten.
»Ihr Herrn und Fraun, die ihr einst Kinder wart, seid es heut wieder, freut euch in ihrer Art. Das Christkind lädt zu seinem Markte ein, und wer da kommt, der soll willkommen sein.«
Pauls Kamera piepste. Der achte Film war durchgezogen.
»Darf ich mal durch?«
Paul schaute verwirrt von seiner Kamera auf. Das Christkind stand ihm gegenüber.
»Darf ich durch?«
»Ja, sicher«, Paul trat zur Seite, »übrigens«, er streckte seine Hand aus, »das hast du wirklich gut gemacht.«
Das Mädchen wiegte misstrauisch den Kopf.
»Ich spreche von dem Prolog. Große Klasse. Sehr souverän vorgetragen«, bekräftigte Paul sein Lob und hielt die Hand ausgestreckt.
Das Christkind zog ein Paar seidene Handschuhe über, bevor es einschlug. Auf Pauls fragenden Blick hin sagte das Mädchen: »Ich muss in meinem Job jeden Tag unendlich vielen Typen die Hand schütteln. Jeder zweite ist erkältet. Was ist, wenn ich mir durch die ewige Händeschüttelei die Grippe hole? Dann ist es vorbei mit der Weihnachtsidylle. Dann fällt das Christkind aus. Und das darf nicht passieren. Also …«, sie grinste doppeldeutig, »also mach’s nie ohne!«
Paul fragte sich, wie sehr Kind das Christkind noch war, dachte aber vorsichtshalber nicht weiter darüber nach, um sich seine Weihnachtsgefühle nicht zu verderben, und drückte die behandschuhte Hand.
Engel, Bühnenarbeiter und Christkind stiegen die Treppen hinab und Paul freute sich auf einen Glühwein mit seinen Kollegen, um den ganzen Rummel würdig zu begießen. Als er das Kirchenportal verließ und seine Kamera sicher verstaute, um sie vor dem Schnee zu schützen, ärgerte er sich über die instinktlosen Sanis, die ihr Martinshorn lautstark über den Platz hallen ließen, ohne Rücksicht auf vorweihnachtliche Harmoniebedürftigkeit zu nehmen.
Er tauchte in den langsam dahintreibenden Menschenstrom ein und bemühte sich, auf einen der Ausgänge des Marktes zuzusteuern. Über dem allgemeinen Gemurmel, dem Klirren der Glühweintassen und dem feinen Klang diverser Glockenspiele in den Verkaufsständen tönte noch immer das Martinshorn; es schien sogar, als wäre ein zweites hinzugekommen.
»Feierabend?«, krächzte eine heisere Stimme hinter ihm.
Überrascht wandte sich Flemming um und sah einen alten Bekannten. »Sag bloß, du warst auch im Einsatz?« Er deutete auf die schwere Kameraausrüstung, die in einer ausgeleierten Ledertasche über der Schulter des Grauhaarigen hing.
Dieser grinste ihn vielsagend an, wobei seine Augen durch die dicken Gläser seiner Hornbrille unnatürlich vergrößert wirkten. »Hab zu wenig beiseite gelegt für die Rente. Deshalb schickt mich meine Frau weiter raus – bei Wind und Wetter. Kennt keine Gnade, die Chefin.« Lenny Zimmermann, in die Jahre gekommener Boulevardfotograf alter Schule und leidenschaftlicher Fan teurer Großformatkameras, konterte auf Pauls Erkundigung
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