Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Haare zu sehen waren. Sie trug leichte schwarze Shorts und ein weißes T-Shirt mit drei schwarzen Streifen an den Seiten. Beides war durchnässt und klebte am Körper. Der Täter hatte die Hose bis zu den Kniekehlen heruntergezogen, so dass ihr Po nur zur Hälfte von dem T-Shirt bedeckt wurde. Der linke Arm des Opfers lag angewinkelt neben dem Kopf, der rechte unter ihrem Körper verborgen.
Paul hatte – Berufserfahrung als gelegentlicher Pressefotograf hin oder her – sich nie daran gewöhnen können, Aufnahmen von Toten zu machen. An diesem Sommermorgen fiel es ihm besonders schwer. Dennoch löste er aus und veränderte mehrfach die Perspektive, um das Opfer von allen Seiten zu zeigen. Blohfeld beziehungsweise sein neuer Chef würde später selbst entscheiden müssen, welches der Bilder sie ihren Lesern zumuten wollten. Beim Umrunden der Leiche fiel Paul auf, dass nirgends Blut oder ein anderes Zeichen äußerer Gewalteinwirkung zu sehen war. Wäre da nicht die heruntergelassene Hose und die gespenstisch fahle Hautfarbe gewesen, hätte Paul angenommen, das Mädchen sei nur gefallen und würde jeden Augenblick wieder aufstehen.
Plötzlich fühlte Paul eine schwere Hand auf seiner Schulter und drehte sich erschrocken um. »Ach, Sie sind das«, sagte er, als er in das ernste Gesicht Gernot Basses sah.
»Machen Sie ruhig weiter«, sagte Basse mit gütigem Unterton. »Und verändern Sie ab und zu Ihre Blende. Es ist nicht gut, sich nur auf die Automatik zu verlassen.«
Diese Bemerkung versetzte Paul einen Stich und er entschied, jetzt und sofort klare Fronten zu schaffen. Statt der Aufforderung nachzukommen, packte er seine Kamera demonstrativ ein. »Ich habe genügend Fotos gemacht«, gab er dem augenfällig verdutzten Basse Kontra. »Weiß man eigentlich schon, wer die Tote ist?«
»Nein. Nur dass das Opfer gestern zwischen zweiundzwanzig Uhr und zwei Uhr morgens überfallen und getötet worden ist.«
»Ziemlich spät, um joggen zu gehen«, stellte Paul fest.
Basse nickte. »Vor allem ziemlich leichtsinnig.«
»Vielleicht wollte sie ursprünglich früher joggen, ist aber aufgehalten worden«, mutmaßte Paul.
Basse neigte mit nachsichtigem Lächeln den Kopf. »Woraus schließen Sie das? Entstehen auf dieser Grundlage die Artikel Ihres Freundes Blohfeld?«
»Er ist nicht mein Freund«, stellte Paul klar.
»Sondern?«
»Mein Auftraggeber.«
Basse zog die Brauen hoch. »Ihr Auftraggeber steht vor Ihnen. Ich fürchte, an diesen Gedanken werden Sie sich gewöhnen müssen.« Augenzwinkernd fügte er hinzu: »Keine Sorge, ich bin ein fairer Team-Player. Wir werden miteinander auskommen.«
Pauls aufkeimende Wut wurde dadurch keineswegs gemildert. Doch es hatte keinen Sinn, es sich gleich bei der ersten Begegnung mit dem neuen Zeitungsboss zu verscherzen. Blohfeld würde er mit einem verpatzten Einstieg ebenfalls keinen Gefallen tun.
Paul beobachtete, wie die Spurensicherer ihre Koffer zusammenpackten und den Tatort räumten. In einem der Klarsichtbeutel, die die Kripoleute verstauten, erkannte er ein gemustertes, burgunderrotes Tuch.
»Sieht nicht aus, als gehöre das der Toten«, bemerkte Paul, als er registrierte, dass auch Gernot Basse auf das Fundstück aufmerksam wurde.
»Nein, mit Sicherheit nicht. Diese Farbe und dieses verschnörkelte Muster – so etwas tragen Männer mit schlechtem Geschmack und schlechten Manieren«, behauptete Basse.
Diese Aussage stimmte Paul trotz ihrer Häme nachdenklich. »Könnte es vom Täter stammen?«, fragte er den Redaktionsleiter leise.
»Möglich«, sagte Basse.
»Es könnte aber auch schon vor Wochen hier verloren worden sein«, mutmaßte Paul weiter, worauf Basse nur unschlüssig die Schultern zuckte.
Bewegung kam in die Runde, als Polizisten das Flatterband für zwei Träger mit einem metallischen Behelfssarg hoben. Paul trat ehrfürchtig ein paar Schritte zurück. Gleichwohl fasste er in seine Fototasche und hielt die Kamera griffbereit. Die Bestatter positionierten sich neben der Toten und hoben sie mit geübtem Griff an. Bevor sie sie in den bereitstehenden Sarg legten, wendeten sie die Leiche vorsichtig.
Grünes Schnittgras klebte an Oberschenkeln und am T-Shirt. Das Gesicht war verdeckt mit dicken, von der Nässe verklebten Haarsträhnen. Als die Bestatter die Tote in den Sarg senkten, hing der rechte Arm schlaff herunter. Die Hand war mit einer Bandage verbunden. Dann lösten sich die verklebten Strähnen und gaben das Gesicht frei.
Paul wollte
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