Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
nervös ihre Brille zurecht. »Er glaubt, dass Blohfeld ahnt, wer der Wiesinger-Mörder ist.«
Paul erstarrte. »Moment«, sagte er. Der betagte Fahrstuhl fuhr unruhig durch den Schacht und gab beängstigend knarrende Geräusche von sich. »Woher wollen Sie Basses Pläne so genau kennen?«
»Das ist nebensächlich«, winkte die Volontärin ab und guckte ihn aus großen Augen durch ihre starke Brille an. »Blohfeld hat seit dem Mord an Wiesinger in Sachen Bratwurst recherchiert. Über irgendein Ding, das den Wiesingers nicht passte. Die neue Praktikantin, diese Französin, hatte er übrigens mit in die Sache hineingezogen.«
Der Fahrstuhl stoppte. Quietschend schob sich die Tür auf.
»Wollen Sie andeuten, dass Blohfeld gezielt kaltgestellt werden soll?«, fragte Paul aufgebracht. »Aber das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
Die Volontärin zwängte sich an ihm vorbei. »Doch, jetzt ergibt es einen Sinn: Wie ich Basse kenne, will er Blohfelds Lage ausnutzen, indem er sich die Wiesinger-Story selbst unter den Nagel reißt und Blohfelds Lorbeeren erntet.« Dann fügte sie deutlich leiser hinzu: »Ich mag diesen gemeinen, alten Kerl. Und ich will nicht, dass man ihm etwas Böses antut.«
Damit verabschiedete sich die eigentümliche junge Frau und ließ Paul stehen.
19
Er verließ das Redaktionsgebäude mit dem unangenehmen Gefühl, in seiner Überraschung und Trauer unbedarft gehandelt zu haben und Basse gegenüber viel zu vertrauensselig aufgetreten zu sein. Die obskuren Andeutungen der Volontärin hatten ihr Übriges dazu beigetragen, Paul zu verunsichern. Er würde dringend mit Blohfeld selbst sprechen müssen. Er griff zu seinem Telefon, doch weder unter seiner Privatnummer, noch am Handy meldete sich der Reporter.
Von der Redaktion aus waren es nach Hause zum Weinmarkt nur wenige Gehminuten. Es war drückend schwül, so dass ihn in seiner Wohnung die Hitze eines Ofens erwarten würde. Kurz entschlossen entschied sich Paul daher für einen Abstecher zur Sebalduskirche. Die angenehmen Temperaturen einer Kirche, aber auch die Ruhe würden ihm gut tun und hoffentlich zu klaren Gedanken verhelfen.
Er hatte das imposante Gebäude sehr schnell erreicht. Erwartungsgemäß war die Luft in dem Gebäude kühl und trocken. Er durchschritt das schmale, hoch aufragende Kirchenschiff, um nach einem Platz zum Ausruhen und Nachdenken zu suchen. Nicht dass Paul ein gläubiger oder gar frommer Mensch war. Nein, ganz sicher traf das nicht auf jemanden wie ihn zu, der sich als Achtzehnjähriger über den Kopf seiner Mutter hinweggesetzt hatte und aus der Kirche ausgetreten war. Paul glaubte genauso wenig an einen Gott wie er an das Schicksal glaubte. Dennoch fühlte er sich von jeher von sakralen Bauten angezogen, und er spürte durchaus die spirituelle Atmosphäre, die von jahrhundertealten Gemäuern wie denen von St. Sebald ausging.
Gerade als er sich auf einer der menschenleeren Kirchenbänke niederlassen wollte, durchdrang ein lauter Ruf die weihevolle Stille und hallte von den Mauern wider. Paul hatte keine Mühe damit, die markante Stimme von Pfarrer Hannes Fink zu erkennen:
»Hey, Flemming, welch eine seltene Ehre in Gottes Haus!«, rief der Geistliche erfreut.
Paul blickte sich suchend nach seinem Freund und Nachbarn um.
»Hier hinten bin ich! Im Westchor!«
Tatsächlich sah er den beleibten Pfarrer mit dem schwarzen, im Nacken zum Pferdeschwanz gebundenen Haar unterhalb der Brüstung des Engelschors vor dem dominanten Kruzifix am Mittelfenster stehen. Paul beeilte sich, Fink zu erreichen. Er stieg die wenigen Stufen hoch, die zu dem Altarplateau führten, und bückte sich unter einer Absperrkordel hindurch. Hinter dem Pfarrer waren an einer Wäscheleine von Kindern gemalte Bilder aufgehängt. Fink hatte eine Klammer in der Hand, mit der er die nächste kunterbunte Pinselei an die Leine hängen wollte, als er Paul begrüßend zulächelte.
Die beiden umarmten sich freundschaftlich, wobei ihm der Pfarrer fest auf die Schultern klopfte. »Lange nicht gesehen«, sagte Fink herzlich. »Zu lange«, fügte er mit leisem Vorwurf hinzu.
Paul nickte. »Ich hatte viel um die Ohren in der letzten Zeit«, machte er einen halbherzigen Erklärungsversuch.
»Schon gut«, sagte Fink und entließ Paul aus der Umarmung. »Was führt dich in die Sebalduskirche?«
Paul verzog das Gesicht. Womit sollte er anfangen?
»Beistand?«, erkundigte sich Hannes Fink vorsichtig. Als Paul nicht gleich antwortete, führte ihn Fink einige
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