Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
wegsehen, so sehr berührte ihn diese Szene. Aber er schaffte es nicht und schaute gebannt auf das Gesicht der Frau, das er nun erkannte. Er blickte in diesem Moment nicht durch seine Kamera, und dennoch kam es ihm vor, als würde sich sein Gesichtsfeld verengen und seine Augen nur noch das Antlitz der Toten wahrnehmen.
»Antoinette«, flüsterte er. Die schwere Kameratasche rutschte ihm von der Schulter und fiel mit dumpfem Aufschlag ins Gras. »Antoinette«, wiederholte Paul leise. Er trat einen Schritt näher, doch ihm wurde schwindelig. Die Bestatter klappten den Deckel zu.
Paul schwankte. Mein Gott, sagte er sich, das darf nicht wahr sein. Antoinette war tot. Das Opfer eines Vergewaltigers! Antoinette! Ausgerechnet!
Paul bückte sich ganz langsam nach seiner Tasche. Wie sollte er das Hannah beibringen?
»Kennen Sie die Tote etwa auch?«, fragte Basse. Seine eigene Betroffenheit war ihm deutlich anzumerken. Als Paul nicht antwortete, legte der Redaktionsleiter abermals seine Hand auf Pauls Schulter. »Ich werde den Kripoleuten mitteilen müssen, dass es sich bei der Toten um unsere Praktikantin handelt. Und danach kommen Sie erst einmal mit in mein Büro und trinken einen Kaffee. Ich denke, wir sollten uns in Ruhe unter vier Augen unterhalten …«
18
Die Fahrt bis zur Redaktion nahm Paul wie durch einen Schleier wahr. Er saß neben Gernot Basse in dessen Dienst-Audi und hing seinen Gedanken nach. Der Tod dieses Mädchens ging ihm sehr nahe, auch wenn er Antoinette kaum gekannt hatte; genau genommen hatte er sie ja nur zwei Mal gesehen, das letzte Mal erst gestern.
Vieles ging ihm durch den Kopf: der zierliche, brutal entblößte Frauenkörper im mit Tau benetzten Gras, das fahle Weiß der Haut – die Farbe des Todes. Paul musste das Fenster einen Spaltbreit öffnen, damit ihm nicht schlecht wurde.
Sie parkten im Hinterhof des Redaktionsgebäudes. Mit einem klappernden Aufzug gelangten sie in die Etage der Redaktionsleitung. Noch immer war Paul gedanklich abwesend, als sie an einer freundlich lächelnden Sekretärin mit braunem Pagenschnitt vorbeigingen.
Basses Büro war nicht besonders groß und schlicht eingerichtet. Ein grauer Designerschreibtisch, schlanke schwarze Sessel mit hohen Lehnen, ein Laptop in griffbereiter Nähe. Die weiße Wand wurde von zwei Ölgemälden dominiert. Sie stellten zwei Katzen dar. Eine leckte sich die Pfote.
»Schön«, log Paul, um den neuen Chef nicht zu kränken. Kunst war schließlich reine Geschmackssache.
Basse ließ sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen, der unter seinem Gewicht nachschwang. Dann kreuzte er die Arme hinter dem Nacken. »Hat meine Frau gemalt«, sagte er, offensichtlich eine Reaktion erwartend. Als diese ausblieb, raunte er Paul verschwörerisch zu: »Sie werden es nicht für möglich halten, aber meine Frau ist Autodidaktin.«
»Aha«, sagte Paul ein wenig ratlos und musterte noch einmal genauer den ungelenken Pinselstrich.
»Wo ist Blohfeld?«, lenkte Paul das Gespräch ein wenig plump auf ein anderes Thema.
Basse stutzte und winkte ab. »Augenblick«, sagte er und betätigte die Lautsprechertaste seines Telefons. »Frau Goscinny, schicken Sie bitte unsere Volontärin zu mir. Sagen Sie ihr, ich habe einen wichtigen Auftrag für sie.«
Dann wandte sich Basse wieder Paul zu. Auf seiner Stirn bildeten sich sorgenvolle Falten. »Um ganz offen zu sein: Ich habe die Sache selbst übernommen, weil ich glaube, dass Herr Blohfeld mit Geschichten dieses Kalibers überfordert ist.«
»Was soll denn das heißen?«, fragte Paul reichlich erstaunt.
»Es mag ja sein, dass der Kollege Blohfeld mit seinen Methoden in der Vergangenheit den einen oder anderen Erfolg erzielen konnte, ich aber halte seine Berufsauffassung für fahrlässig.«
Paul versuchte, die Information mit dem, was er über Blohfelds Wesen wusste, abzugleichen und sinnvolle Schlüsse daraus zu ziehen. »Das ist aber ein sehr hartes Urteil«, sagte er dann reichlich ratlos.
Basse schaute ihn entsprechend missmutig an. »Sie mögen Herrn Blohfeld länger kennen als ich, aber auch ich kann eins und eins zusammenzählen.«
»Was meinen Sie?«, fragte Paul, obwohl er Basses Gedanken längst ahnte.
»Blohfeld hat nicht gerade ein Geheimnis daraus gemacht, was er von Antoinette als Praktikantin in erster Linie erwartete.«
»Jetzt übertreiben Sie bitte nicht«, mahnte Paul verhalten. »Blohfeld ist kein Bill Clinton.«
»Nicht?«, fragte Basse mit einem Anflug von Sarkasmus.
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