Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
also quasi mitten in der Nacht.
»Ja?«, meldete er sich und richtete sich etwas steif auf seinem Schlafsofa auf. Eine alte Sportverletzung im Knie schmerzte wieder.
»Sind Sie Flemming, der Fotograf?«, fragte eine Frauenstimme.
Ein wenig zu schrill für diese Uhrzeit, dachte Paul und gab keine Antwort.
Die Anruferin ließ sich davon nicht ins Bockshorn jagen, sondern stellte sich als Volontärin der Lokalredaktion von Blohfelds Blatt vor. Paul möge seine Kamera einpacken und sich auf der Wöhrder Wiese einfinden, sagte sie, noch immer schrill. Und zwar umgehend.
Paul überlegte ernsthaft, ob er die schroffe Volontärin auflaufen lassen und abermals schweigen sollte. Aber das ging natürlich nicht, denn ihm war an jedem neuen Auftrag gelegen.
»Um was geht es?«, fragte er möglichst freundlich, während er aufstand und ins Bad schlurfte.
»Um einen Mord an einer jungen Frau. Mehr ist nicht bekannt. Sie werden in spätestens zwanzig Minuten am Tatort an der Wöhrder Wiese erwartet.«
»Ist Blohfeld schon vor Ort?«, fragte Paul und drückte einen Streifen Zahnpasta auf den Bürstenkopf.
»Herr Blohfeld hat sich für ein paar Tage freigenommen«, antwortete die Schrille und legte auf.
»Was?« Paul ließ die Zahnbürste ins Waschbecken sinken. Bislang hatte sich der Polizeireporter seines Wissens nach so gut wie nie freigenommen. Nein, argwöhnte Paul, das passte nicht zu ihm. Und schon gar nicht würde Blohfeld sich einen Mord entgehen lassen.
Er wählte den direkten Weg zu Fuß über den Hauptmarkt, wo die ersten Markthändler ihre Stände aufbauten und kistenweise Obst und Gemüse ausluden, dann lief er die Pegnitz entlang und am Großkino Cinecittà vorbei durch die Unterführung des Altstadtrings. Er überquerte die hölzerne Brücke, die über einen Seitenarm der Pegnitz führte, und gelangte auf die Wöhrder Wiese.
Der Park begrüßte ihn mit friedlicher Stille. Die dicht belaubten Büsche schirmten die Fahrzeuggeräusche der Stadt ab. Über der weiten Grasfläche, die von großen Bäumen umsäumt war, lag feiner Morgendunst.
Der Park war um diese Zeit menschenleer, und Paul verlangsamte automatisch seinen Gang, als er sich seinem Ziel am östlichen Rand der Wiese näherte.
Ein weißrotes Flatterband signalisierte ihm von weitem, wo er erwartet wurde. Trotz des Aufgebots an Polizisten, Sanitätern und Journalisten wirkte die Szenerie merkwürdig leise und unaufgeregt. Die Männer verhielten sich ruhig und bedächtig, als würden sie sich an die friedfertige Umgebung anpassen.
Paul ging näher heran und schaute sich nach dem Pressesprecher der Polizei um. Stattdessen trat ihm ein groß gewachsener schlaksiger Kerl mit offenem Lächeln, leicht gelockten schwarzen Haaren und rostbraunem Cordanzug entgegen. Er reichte Paul eine ebenfalls große Hand – Paul war versucht, sie als Pranke zu bezeichnen.
»Paul Flemming, wenn ich nicht irre«, sagte der Mann und durchbrach das verhaltene Gemurmel der anderen mit einer selbstsicheren, dunklen Stimme. Bevor Paul antworten konnte, stellte sich der andere vor: »Gernot Basse.« Er zog mit der freien Hand eine Visitenkarte aus seiner Jacketttasche. »Ich bin der neue Zeitungschef, wie Sie sicherlich schon wissen.«
»Ich habe eigentlich mit Victor Blohfeld gerechnet«, sagte Paul und fühlte sich überrumpelt. »Dass Chefs um diese Zeit persönlich unterwegs sind, ist ja eher ungewöhnlich.«
»Nun wollen wir den Ball mal schön flach halten«, sagte Basse und blickte auf Paul hinab. »Herr Blohfeld hat eine Menge Überstunden angehäuft, die er jetzt abbaut. Außerdem möchte ich die Arbeitsgebiete meiner Mitarbeiter gern selbst kennen lernen.«
Paul beschloss, die Erklärung vorerst zu akzeptieren und Blohfeld später auf diese seltsame Entwicklung anzusprechen. Er machte sich an die Arbeit und nahm seine Kamera aus der Fototasche, setzte ein 35-mm-Objektiv auf und näherte sich dem Fundort der Leiche, um welche die anderen Fotografen dicht gedrängt standen. Die Äste eines Johannisbeerstrauchs waren niedergedrückt und einige Zweige abgebrochen, das Gras davor war platt getreten.
Der Anblick der Leiche machte Paul zutiefst betroffen. Er musste seine Kamera zwischen sich und das Geschehen bringen, um den Anblick der Toten ertragen zu können.
Durch das Objektiv sah er zwei schneeweiße, schlanke Beine, die zu einem X verschränkt im Gras lagen. Die junge Frau lag auf dem Bauch, so dass von ihrem Kopf nur lange schwarze und vom Tau feuchte
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