Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Rippen.
»Wie spät ist es?« Er rieb sich die Augen.
»Kurz vor sechs«, sagte Hannah aufgeregt. Sie tippte auf den Rückspiegel. »Es sieht so aus, als bekämen wir doch noch Besuch.«
Paul drehte am Spiegel. Inzwischen war es taghell. Dieses Mal gab er sich nicht die Mühe sich zu verstecken. Paul war sicher, dass der Lkw an ihnen vorbeifahren würde. Durchgangsverkehr. Mehr nicht.
Doch er irrte sich. Genau auf ihrer Höhe trat der Fahrer auf die Bremsen. Paul hörte deutlich das Zischen des Hydrauliköls. Er musterte den hoch aufragenden Aufbau des Lasters, der mit fremdsprachigen Aufschriften versehen war. Paul tippte von der Buchstabenfolge her auf eine osteuropäische Sprache.
»Ob der sich auch verfahren hat?«, fragte Hannah zaghaft.
Paul wartete neugierig auf das, was sich nun tun würde. Eine Weile passierte gar nichts. Dann, plötzlich, fuhr der Lkw mit einem Rucken an und bog in das weit geöffnete Tor der Wiesinger-Fabrik.
»Mensch, Flemming«, platzte es aus Hannah heraus. »Der fährt tatsächlich da rein!«
»Na und? Ein Zulieferer um diese Uhrzeit ist doch völlig normal«, sagte er lässig, war jedoch durch die ausländische Beschriftung selbst misstrauisch geworden. Er versuchte, das Nummernschild des Lasters zu entziffern. Doch aus dieser Entfernung hatte er kaum eine Chance.
Der Lkw hatte das Tor jetzt durchquert. Paul überlegte, wie sie weiter vorgehen könnten. Vorsichtshalber nahm er seine Kamera zur Hand und schoss ein paar Fotos. Seine Bewegungen waren fahrig und die Bilder sicherlich verwackelt, aber vielleicht würde er später am Computer einiges Verwertbares aus den Aufnahmen herauskitzeln können.
Plötzlich stockte ihm der Atem: Am Rand seines Suchers sah er jemanden durch das Werktor laufen. Paul setzte die Kamera ab, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass neben dem Lkw tatsächlich jemand mit jugendlich sportlicher Figur und goldener Lockenmähne lief.
Paul fuhr herum: Der Beifahrersitz war leer. »Verdammt!«
Er schlug kräftig auf das Polster. Was sollte der Unsinn? War Hannah lebensmüde? Sie wusste doch, dass bei den Wiesingers etwas oberfaul war, dass bereits zwei Menschen gestorben waren! Warum musste sie ausgerechnet jetzt die Heldin spielen?
Paul sprang aus dem Wagen und überquerte im Eiltempo die Straße. Der Lkw hatte inzwischen die Zufahrt verlassen und die Tore begannen sich zu schließen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, stieß Paul aus. Er ging in geduckter Haltung weiter, damit man ihn vom Pförtnerhäuschen aus nicht sehen konnte, und zwängte sich im letzten Augenblick durch den Spalt, bevor die Tore scheppernd einrasteten.
Auf dem weitläufigen Gelände war von Hannah keine Spur. Es roch nach Schlachtung, Blut und Abfallprodukten für die Abdeckerei. Er hütete sich nach Hannah zu rufen. Im schützenden Schatten der Gebäude schlich er weiter und fluchte still vor sich hin. Ein Pfiff ließ ihn herumfahren. Er entdeckte Hannahs von der Morgensonne beschienenen Lockenkopf im Schutz einer vorgezogenen Verladerampe an einer Kühlhalle, etwa zwanzig Meter von seiner eigenen Position entfernt. Paul beeilte sich, den Weg zu ihr schnell zurückzulegen, ohne seine schützende Deckung aufzugeben.
»Sie werden es nicht für möglich halten«, empfing ihn Hannah außer Atem.
»Bist du verrückt geworden, mir einfach stiften zu gehen?«, fauchte Paul sie an.
Hannah winkte ab. »Schauen Sie sich das an«, flüsterte sie und wagte sich ein Stück weit aus ihrem Versteck unterhalb der Rampe hervor. »Sehen Sie, was die Männer aus dem Lkw laden?«
Erst jetzt registrierte Paul das geschäftige Treiben auf der Rampe über ihnen. Zwei Männer, wahrscheinlich die Fahrer des Lastwagens, hatten transparente Plastiksäcke geschultert und trugen diese ins Innere der Kühlhalle.
Paul wollte im ersten Moment nicht glauben, was er da sah: Durch die Hülle der Säcke zeichnete sich die charakteristische Form von Nürnberger Würstchen ab. Hunderte, Tausende, tiefgefroren und in Plastik verpackt.
»Wow!«, stieß Hannah aus. »So machen die das also.«
»Was machen die?«, fragte Paul fassungslos.
»Die brechen das allerheiligste Nürnberger Reinheitsgebot«, folgerte Hannah. »Die kaufen billig produzierte Bratwürste aus dem Ausland ein …«
»… die dann in Nürnberg nur noch verpackt und als ›Original Nürnberger‹ etikettiert werden«, brachte Paul den Satz zu Ende.
Hannah sah ihn euphorisch an. »Sie hatten doch erzählt, dass Sie nicht in
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