Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
konnte er sich nicht, denn da stand dieser Misston zwischen Katinka und ihm. Er hielt Katinka in ihrem Auftreten für entschieden zu wankelmütig – denn er wusste, sie quälten die gleichen Fragen wie ihn.
Warum, zum Teufel, spielte sie ihm ständig etwas vor? Zugegeben: Er mischte sich in ihre Arbeit ein. Aber trotzdem musste sie erkennen, dass sie mit ihren vorschnellen Vorverurteilungen auch nicht weiterkam.
Katinka schien seine Gedanken zu erahnen. Sie tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab und blickte ihn freundlich an. »Ich gebe zu, dass ich mich in den letzten Tagen mehrfach geirrt habe. Erst habe ich Wiesinger junior für einen Mörder gehalten, dann Blohfeld, Dr. Jungkuntz und Hans Schaller. Und nun Antoinette.« Sie kräuselte die Stirn. »Das alles ist für mich genauso schwer zu verarbeiten wie für dich. Aber im Gegensatz zu dir muss ich mir mit derartig krummen Gedankengängen meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich bin die Anklägerin, die nach einem Mörder sucht. Spiele du meinetwegen weiter den Anwalt und werfe dich für meine Verdächtigen ins Zeug – vielleicht finden wir auf diese Weise am Ende sogar den wahren Schuldigen.«
Nun konnte auch Paul wieder lächeln. Er rechnete es Katinka hoch an, dass sie einen versöhnlichen Ton anschlug. Paul tunkte den letzten Streifen Speck ins Eigelb. »Was schlägst du also vor, was wir tun sollen?«
Katinka sah ihn einen Moment lang grüblerisch an. »Wir könnten die Akten schließen und mit dem Aktenzeichen ›ungelöst‹ versehen.«
»Und dann?«, fragte Paul verwundert.
»Und dann fahren wir gemeinsam zum Flughafen, kaufen uns ein Ticket in den Süden und lassen es uns gut gehen.«
Paul lachte. Natürlich wusste er, dass Katinka eine solche Möglichkeit niemals ernsthaft in Betracht ziehen würde. Gerade wollte er auf ihren Scherz eingehen, als er einen jungen Mann im dunklen Anzug auf sie zueilen sah. Im ersten Moment hielt er ihn für irgendeinen Banker, der seine Pause ebenso wie sie vorm Sachs & Söhne verbringen wollte. Doch Katinkas wenig begeisterte Gesichtszüge signalisierten ihm, dass sie den Herannahenden persönlich kannte.
»Wer ist das?«, erkundigte sich Paul.
»Gehört zur kommenden Generation der Topjuristen«, flüsterte Katinka sarkastisch und wandte sich dem Ankömmling mit aufgesetzter Freundlichkeit zu.
»Frau Blohm«, setzte der junge Mann abgehetzt an. »Man hat mir gesagt, dass ich Sie hier finden würde. Ich habe vergeblich versucht, Sie übers Handy zu erreichen.«
Paul beobachtete amüsiert, wie Katinka ihr Telefon aus der Tasche zog und gleichgültig feststellte, dass es ausgeschaltet war.
Der Jungjurist schien das weniger lustig zu finden: »Es gibt eine wichtige neue Entwicklung im Fall Wiesinger.«
Katinka und Paul sahen auf. Wie aus einem Mund fragten sie: »Schon wieder eine?«
»Die Verkehrspolizei Ingolstadt hat sich bei uns gemeldet. Die Ingolstädter haben von unseren Ermittlungen Wind bekommen«, erklärte der junge Mann umständlich.
»Ja, und?«, fragte Katinka.
»Der Wiesinger-Porsche ist in der Mordnacht in Höhe von Ingolstadt auf der Autobahn in einem geschwindigkeitsbeschränkten Bereich geblitzt worden.«
»Zum Donnerwetter, kommen Sie endlich auf den Punkt!«, fauchte ihn Katinka an.
Der schmächtige Bote sah sie ängstlich an. »Die Kamera hat den Porsche um drei Uhr früh in Fahrtrichtung München mit Tempo zweihundertzehn erwischt.«
»Und wer saß am Steuer?«, schaltete sich Paul ein.
Der steife Nachwuchsjurist schaute ratsuchend auf Katinka, bevor er antwortete: »Frau Doro Wiesinger.«
41
Katinka hatte seufzend einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch geknallt und war mit ihrem Hilfssheriff aufgebrochen. Paul war seelenruhig in seinem Liegestuhl sitzen geblieben, denn inzwischen wunderte ihn gar nichts mehr.
Es gab also wirklich eine neue Verdächtige. Oder sollte er sagen: eine alte/neue Verdächtige? Denn ein wenig suspekt war ihm Doro Wiesinger von Anfang an gewesen. Das aufgetauchte Polizeifoto war ohne jeden Zweifel dermaßen belastend, dass die Karten für sie sehr, sehr schlecht standen.
Er erhob sich langsam aus seiner bequemen Position. Auf dem Weg zurück zum Weinmarkt versuchte er gar nicht erst, die neueste Entwicklung in irgendeinen nachvollziehbaren Sinnzusammenhang zu bringen. Irgendwie schien sich allmählich jeder als potenzieller Täter anzubieten. Ausnahmsweise war Paul einmal richtig scharf darauf, ein paar abgeklärte Worte mit seinem Mitbewohner zu
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