Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
abermals unsicher: Sollte er nicht vor der Fahrt zur Witwe zumindest noch eine weitere Meinung dazu hören?
Sollte – oder vielmehr – musste er nicht Katinka einweihen und um Rat fragen? Er zog sein Handy aus der Hosentasche und wählte ihre Nummer.
Dann hielt er plötzlich inne. Wie sollte er ihr erklären, dass er es nicht verhindern hatte können, dass Blohfeld ein Stück aus dem Hauser-Hemd schnitt? Er drückte die Auflegetaste. Einen Moment lang verfiel er wieder in seine alte Gewohnheit, auf der Unterlippe zu kauen. Dann entschied er sich für einen Kompromiss: Er würde Katinka eine SMS schicken.
»Hallo – stecke in Schwierigkeiten – dein Rat wäre Gold wert«, tippte er in sein Handy und wartete auf ihre Reaktion, während er weiterging.
In Höhe des Cafe Neef vor dem etliche Gäste bei frischem Pflaumenkuchen mit üppiger Sahnehaube an den kleinen Tischen saßen und die milde Septembersonne genossen, zirpte sein Handy auf:
»Keine Zeit. – Wenn du was willst, lade mich zum Essen ein.«
Verwundert schaute er von seinem Handy auf. Dann schrieb er: »Es ist aber wichtig und eilig.«
Die Antwort folgte keine Minute später: »Heute Abend, halb acht, bei Jan-Patrick.«
Paul wollte sein Handy schon einstecken, als noch eine weitere SMS kam: »Du zahlst.«
Paul traf viel zu früh im Goldenen Ritter ein. Henleins Aktentasche hatte er in seinem Loft zurückgelassen, aus dem er vor lauter Nervosität und innerer Unruhe so schnell wie möglich wieder geflüchtet war.
»Bonsoir«, begrüßte ihn Marlen im noch beinahe menschenleeren Gastraum, »wir haben für Frau Blohm und dich den Erkertisch im Obergeschoss reserviert.« Sie zwinkerte ihm verschmitzt zu.
»Jan-Patrick ist in der Küche, nehme ich an?«, fragte er freundlich.
Die zierliche brünette Kellnerin schenkte ihm ein herzliches Lächeln und nickte.
Paul fand den Küchenchef wie immer beschäftigt vor. Heute war sein weißer Kittel ausnahmsweise mal nicht in einwandfreiem Zustand, sondern mit einigen Flecken gesprenkelt. Auch in der kleinen Küche roch es anders als sonst: Statt nach mediterranen Kräutern, sorgsam geschmortem Fleisch und auf Kohle gegrillten Nürnberger Rostbratwürstchen roch es nach herbstlicher Natur – würzig, beinah erdig.
»Fischwasser«, erklärte Jan-Patrick, der anscheinend aus Pauls leicht entgleisten Gesichtszügen auf dessen Gedanken geschlossen hatte. Der kleine Küchenmeister mit dem öligen, pechschwarzen Haar, den dunklen, immer bewegten Augen und der großen Nase, strahlte seinen Freund an: »Willkommen zur Eröffnung der Karpfensaison!«
Paul lächelte und umarmte seinen Nachbarn, der dabei sein großes scharfes Messer tunlichst auf Abstand hielt.
»Verzeih mir, aber ich muss die Jünger der R-Monate befriedigen und habe deshalb jede Menge zu tun.«
Paul brauchte keine weiteren Erklärungen. Die R-Monate waren die der Karpfensaison, also Monate, die den Buchstaben R in ihren Namen trugen. Nun konnte sich Paul auch den typischen Geruch erklären: In großen, an der Längsseite der Küche aufgestellten Becken schwammen die dickleibigen Fische Seite an Seite.
Paul trat an eines der überdimensionalen Aquarien näher heran. Die Wasseroberfläche wurde beständig aufgewühlt. Die Mäuler der schwarzgrauen Schuppenträger stupsten gegen Luftbläschen, die sie durch die Schläge ihrer Flossen selbst erzeugt hatten, und rangen anscheinend um den besten Platz im eng umkämpften Becken.
Jan-Patrick schob Paul einen Schritt zur Seite und versenkte einen Kescher in einem Becken. Ein mittelgroßes Exemplar ging ihm ins Netz und protestierte mit wilden Flossenschlägen gegen die Gefangennahme.
»Jetzt pass genau auf, dann kannst du noch etwas lernen: Zuerst nehmen wir den Karpfen heraus«, sagte Jan-Patrick, während er den Kescher über ein Spülbecken aus Aluminium hielt. »Wenn er frisch geschlachtet ist, also noch kurz vor der Zubereitung gelebt hat, schmeckt er am besten.« Mit geübten Griffen befreite der Koch den Fisch aus dem Netz und legte ihn auf ein dickes Holzbrett.
Der Karpfen zappelte in Todesangst. Er krümmte sich und schnappte mit seinem Maul panisch nach Luft.
»Du musst ihn mit dem Bauch fest auf die Unterlage drücken«, erklärte Jan-Patrick, »und ihm dann einen kräftigen Schlag auf den Kopf verpassen.« Mit der Rechten griff er hinter sich und bekam einen Holzknüppel zu fassen.
Paul zuckte zusammen, als der Koch ausholte und gezielt auf die Stirn des Tieres schlug.
»Wenn sich der
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