Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
»Briefe? Ich wusste bisher nur von einem. Und Henlein sprach mir gegenüber auch nur von einer einzigen Nachricht.«
Blohfeld neigte bedächtig den Kopf. »Nein, es waren zwei.« Blohfeld sog an seiner Zigarre und nahm einen Computerausdruck zur Hand. »Die Originalbriefe sind verschollen. Im Ansbacher Museum werden aber Faksimile davon aufbewahrt. Im ersten Brief, dem sogenannten Mägdeleinszettel, steht: › Das Kind heißt Kaspar. Ich bin ein armes Mägdelein und kann ihn nicht ernähren. Wenn er siebzehn Jahre alt ist, schicken Sie ihn nach Nürnberg zum sechsten Regiment. ‹ Der zweite Brief lautet: › Ich bin ein armer Tagelöhner. Seine Mutter hat mir das Kind gelegt und ich habe ihn seit 1812 keinen Schritt weit aus dem Haus gelassen. Ich habe ihn mitten in der Nacht fortgeführt. Er weiß nicht, wo ich wohne. ‹ Man hat natürlich graphologische Untersuchungen angestellt. Die ergaben, dass es sich bei beiden Briefen um ein und denselben Verfasser handelte. Deshalb hat Henlein wohl auch nur von einer Nachricht gesprochen.«
»Nur ein Verfasser, sagen Sie? Und gleichzeitig so widersprüchliche Inhalte? Es handelte sich logischerweise um falsche Fährten«, schlussfolgerte Paul.
Blohfeld nickte bedächtig. Er schnippte die Asche von seiner Zigarre. »Höchstwahrscheinlich ja. Aber dadurch ließen sich die handelnden Personen seinerzeit nicht irritieren. Denn schon bald begannen einflussreiche Kreise sich für Hauser zu interessieren. Nürnbergs Erster Bürgermeister Friedrich Binder suchte Hauser auf und quetschte ihn nach allen Regeln der Kunst aus.« Blohfeld hob einen ganzen Stoß bedruckter Papiere empor, bei denen es sich offenbar um die Ergebnisse seiner Hauser-Recherchen handelte. »Binder verfasste nach seinem Besuch eine Denkschrift, wonach Kaspar vorsätzlich › um die Vorzüge einer vornehmen Geburt ‹ gebracht worden sei. Der Bürgermeister machte keinen Hehl aus seiner Einstellung, und so erfuhr die Öffentlichkeit von alledem: Binders Behauptung, die übrigens als Binder-Erlass in die Geschichte eingegangen ist, setzte das Gerücht um Hausers adlige Herkunft in die Welt. Damit ging der ganze Zirkus los.«
Paul sagte nichts, doch ihm war klar, dass Blohfeld darauf spekulierte, dass er noch mehr erfahren wollte.
Der Reporter lächelte zufrieden, wohl weil er in Paul einen aufmerksamen Zuhörer gefunden hatte: »Das wilde Kind im Luginsland. . .«
»Im Gefängnisturm auf der Kaiserburg?«, unterbrach ihn Paul überrascht. Ihm war nicht klar, wie viele Stationen Hauser auf seiner Odyssee durch Franken einlegen musste.
»Richtig: Unser Luginsland wurde ja auch gern als Narrenhäuschen verwendet. Und nach Meinung der Leute war Hauser in dem Turm genau richtig aufgehoben«, erklärte Blohfeld. »Aber wie gesagt: Dann kam der Binder-Erlass und schlug ein wie eine Bombe. Der Gefängnisturm der Kaiserburg wurde zur absoluten Attraktion. Klar: Die Menschen mögen solche Storys, damals genauso wie heute! Ein bisschen Aristokratie, eine Prise Neid und Missgunst und nicht zuletzt die Gerüchte um den dreisten Betrug bei der Erbfolge der Badener, zu dem der arme Junge angeblich missbraucht worden war – eine tolle Boulevardgeschichte! Plötzlich war
Hauser wer: Er wurde für die Masse interessant!« Blohfeld beugte sich vor und sah Paul eindringlich an. »Das einfache Volk strömte auf die Burg, um das Wolfskind zu bestaunen. Jeder sprach über Hauser – er war zu einer echten Berühmtheit geworden. Damit begann der kometenhafte Aufstieg eines unbekannten Fremdlings zum populären Häftling und möglichen Thronfolger – kein Wunder, dass das Thema bis heute nicht an Reiz verloren hat.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?«, unterbrach Paul schließlich erneut Blohfelds Schwärmereien.
»Weil ich erreichen möchte, dass Sie allmählich die enorme Tragweite dieses Falls zu begreifen lernen«, sagte Blohfeld mit unverhohlener Arroganz. »Hauser war nicht irgendein beliebiges Findelkind. Sie müssen ihn in europäischen Dimensionen betrachten: Vergessen Sie nicht, dass seine potenzielle Mutter eine Adoptivtochter von Napoleon Bonaparte war! Es ist immer noch mächtig viel Musik in der Story. Unsere Leser haben ein Recht darauf, mehr über dieses Hemd zu erfahren!«
Paul nickte. »Verstehe«, presste er heraus. »Aber ich werde Ihnen trotzdem nichts anderes bieten können als ein Foto und einen kurzen Blick auf den Blutfleck.«
Blohfeld ließ seine Zigarre im Aschenbecher verglimmen, obwohl sie
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