Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Paul zusammen.
In dem großen hohen Raum der Waffenkammer bot sich ihnen eine eigentümliche, beinahe gespenstische Szenerie: In den zahlreichen Vitrinen und Schaukästen erkannte Paul im Vorbeigehen Hellebarden, vierkantige Panzerstecher, Waidbestecke und allerlei scharfkantige Gegenstände, von denen er lieber gar nicht so genau wissen wollte, zu was sie einmal gedient hatten. Auf einer Seite standen Ritter in voller Montur. Dominiert wurde die Gruppe von einem Rittersmann in silbern glänzender Rüstung. Er saß auf einem weißen, zum Teil gepanzerten Pferd und hielt in der Rechten – angriffslustig nach vorn gerichtet – eine Lanze. Die letzten Sonnenstrahlen spiegelten sich in den großen Glasfronten des Museums, fanden ihren Weg durch die oberen Fenster in den Saal und zeichneten die Silhouette des Reiters als riesigen schwarzen Schatten auf den marmornen Bodenplatten nach.
Wenige Meter von den Rittern entfernt waren auf dürren Klappstativen Scheinwerfer aufgebaut worden, die ein Karree von rund drei mal drei Metern ausleuchteten. Im Lichtschein lag der Körper eines fülligen Mannes von etwa fünfzig Jahren. Seine Beine und Arme waren weit auseinandergespreizt, die Kleidung seines Oberkörpers bestand nur noch aus Fetzen. Darunter waren mehrere tiefe Schnittverletzungen zu erkennen. Das schlimmste Bild aber bot sein Gesicht: blutüberströmt, mit qualvoll verdrehten Augen.
»Los jetzt!« Blohfeld stieß Paul an.
Paul schaute sich nach den Kripobeamten um, die sich offenbar zu einer Lagebesprechung in einen anderen Teil des großen Saals zurückgezogen hatten. Er griff nach seiner Kamera und trat widerwillig näher heran.
Als er durch sein Objektiv blickte und an den Toten heranzoomte, erkannte er das wahre Ausmaß der Verletzungen. Entsetzt stellte er fest, dass die Ränder der Wunden stark ausgefranst waren. Mindestens fünf Mal hatte der Täter zugestochen und das allein am Oberkörper. Ein Gemetzel!
Offensichtlich war die Tatwaffe nicht besonders scharf gewesen, denn nur so konnte sich Paul das brachiale Vorgehen des Täters und die Art der Verletzungen erklären. In schneller Folge machte Paul zwanzig Fotos.
Die Bestätigung für seine Annahme fand Paul unmittelbar neben dem Körper des Toten, als er den am Boden Liegenden halb umrundet hatte. Auf dem Marmor funkelte ein langes schlankes Schwert mit silberner Schneide und dunkel angelaufenem Metallgriff. Die Spitze der Klinge war auf einer Seite stärker verjüngt als auf der anderen, so dass sie die Form eines Widerhakens bildete. Als Paul mit seinem Teleobjektiv näher heranfuhr, erkannte er fein ziselierte Gravuren auf dem stumpfen Klingenblatt. Mehrere altertümlich gekleidete Personen waren dargestellt, dazu rankende Blumenmuster und Wappen. Er schoss von der kompletten Tatwaffe sowie den einzelnen Details Fotos.
Dann bemerkte er zwei Schritte rechts neben dem Toten eine leere Standvitrine, die weit geöffnet war. Ein Schlüsselbund, wohl der des Toten, steckte im Schloss. Paul folgerte daraus, dass das Schwert in der Vitrine ausgestellt gewesen war, und warf einen Blick auf eine danebenstehende Informationstafel:
»Schwert. Einschneidige Klinge mit Ätzungsarbeiten. Gefäß Eisen, geschwärzt«, las er leise. »Nürnberg nach 1534. Stilisierte Darstellungen biblischer Szenen. Das Bildprogramm der Vorderseite ist dem 10. Kapitel der Sprüche Salomos (Vers 4-7) entnommen. Grotesken als ornamentartiges Dekor auf der Rückseite. Trägt die Wappen der Patrizierfamilien.« Weiter unten war ein zusätzlicher Hinweis vermerkt: »Das Schwert ist vermutlich als Geschenk der Patrizierfamilien für Ottheinrich von der Pfalz geschaffen worden, der sich ab 1542 offen zu den Lehren Luthers bekannte.«
Wieder betätigte Paul den Auslöser der Kamera, um den Text abzulichten. Durch die Beschreibung des Schwertes aufmerksam geworden, ging er noch einmal zurück und beugte sich dicht über die Waffe. Tatsächlich erkannte er neben etlichen bildlichen Darstellungen auch einzelne Verse:
»DEN SEGEN HAT DAS HAUPT DES GERECHTEN«, las er. Dann entzifferte er mit Mühe einen weiteren, schwer leserlichen Satz:
»ABER DER MUND DES GOTLOSEN WIRT IR FREVEL UBERFALLEN – DAS GEDAECHTNIS DER GERECHTEN BLEIBT IM SEGEN.«
Abermals machte Paul eine Aufnahme. Als er sich nach Blohfeld umwenden wollte, stellte er fest, dass er seinen Fuß nicht heben konnte, und schaute nach unten. Sein Schuh klebte fest, als wäre er auf einen großen Kaugummi getreten. Doch es war
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