Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
befruchten und bestärken. Ich hatte – mit Gottes Hilfe – dazu beigetragen, die ungnädige Kluft in seinen Erinnerungen zu überwinden. Doch ein Wermutstropfen blieb für immer: Trotz vereinter Kräfte gelang es uns nie, das Vergessene zurückzuholen. Aber Franz Henlein hat dennoch nie mit seinem Glauben gehadert. . .«
Paul zoomte näher an den Geistlichen heran. Die vielen Falten in seinem Gesicht ließen Paul vermuten, dass der Pfarrer noch älter war, als er zunächst angenommen hatte. Siebzig, fünfundsiebzig Jahre, vielleicht sogar um die achtzig. Andererseits wirkte er noch sehr rüstig.
». . . Henlein war ein Opfer des Krieges. Über sechzehn Millionen der heute lebenden Deutschen stammen aus den Jahrgängen 1927 bis 1948. Dreißig Prozent von ihnen wurden durch die Kriegserlebnisse traumatisiert, sagen die Psychologen. Die meisten wuchsen auf, ohne ihr Leid mit Hilfe von Eltern oder anderen Bezugspersonen aufarbeiten zu können. Henlein erging es noch schlimmer – ihm war es nicht einmal vergönnt, um seine wahrscheinlich in einer Bombennacht oder auf der Flucht getöteten Eltern trauern zu können. Aufgrund seiner Amnesie blieb ihm nicht einmal die Erinnerung an sie . . .«
Dann entdeckte Paul zu seiner Überraschung einen alten Bekannten: volles rundes Gesicht, mit schwarzem Pferdeschwanz. Das war unverkennbar Hannes Fink, der Pfarrer von St. Sebald! Paul hatte seinen Freund und Nachbarn seit Längerem nicht gesehen, und mit der Aussicht, ihn nach der Trauerfeier sprechen zu können, besserte sich seine trübe Stimmung spürbar.
». . . Was hieß es denn, eine Waise im zerstörten Nürnberg zu sein?«, fragte der alte Pfarrer rhetorisch in die Trauergemeinde. »Fast die Hälfte aller Kinder hatte in den Nachkriegsjahren kein eigenes Bett, ihre Freizeit verbrachten sie in Ruinen: Die Schuttberge und Bombentrichter waren ihr riesiger Abenteuer Spielplatz. In der Zeit des Mangels und der Not war für Trauerarbeit kein Platz – und vielleicht war das sogar ein Segen, ein Glück für den jungen Franz . . .«
Paul beobachtete, wie Fink seine Hände knetete. Offenbar fühlte er sich auf einer Beerdigung unwohl, bei der nicht er das Sagen hatte, sondern sein betagter Kollege:
». . . Halten wir uns darum vor Augen: Die persönliche Trauer um seine Angehörigen blieb Franz Henlein zeitlebens verwehrt – wir aber können nun um ihn trauern. Um einen warmherzigen und gütigen, um einen zielstrebigen und fleißigen Menschen, um einen aus tiefstem Herzen gläubigen Protestanten . . .«
Paul umrundete die Trauergemeinde, um die Perspektive seiner Fotos zu variieren. Bis auf die letzten Sätze, die der alte Pfarrer murmelte, während die Bestatter den Sarg in die Gruft hinabließen, bekam er vom Rest der Predigt kaum noch etwas mit:
»Nur Gott allein weiß um das Geheimnis seiner Herkunft. Und er wird sich seiner annehmen: Die Gerechten werden ewig leben und bei dem Herrn ihren Lohn haben.« Der Pfarrer ließ salbungsvoll seine Hand über das Grab hinweggleiten. »Gott wird abwischen die Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. So vertrauen wir Franz Henlein Seiner barmherzigen Liebe an und übergeben seinen Leib der Erde. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Lass uns nicht vergessen, dass wir sterbliche Menschen sind. Amen.«
Die Witwe war die erste, die eine Blume in das Grab warf. Gleich darauf wandte sie sich ab und eilte im Kreise einiger gleichaltriger Frauen schluchzend davon, dicht gefolgt vom alten Pfarrer. Während die anderen Trauernden noch am offenen Grab standen, begannen die Friedhofsmitarbeiter schon damit, die Grube mit Erde zu füllen.
Paul hielt nach seinem Freund Hannes Fink Ausschau und erwischte ihn gerade noch, als er im Begriff war, mit den anderen Trauergästen fortzugehen:
»Hannes, warte!«, rief Paul.
Der korpulente Pfarrer drehte sich um. »Paul?«
»Hallo.« Paul lächelte ihn an. »Lange nicht gesehen. Was suchst du denn auf einer Beerdigung, die einer deiner Konkurrenten hält?«
»Ach was«, tat Fink die Sache erheitert ab. »Pfarrer Hertel zählt nicht zur Konkurrenz. Gottfried und ich sind seit vielen Jahren gute Bekannte.«
»Hertel?« Langsam dämmerte es Paul.
»Genau«, nickte Fink. »Gottfried Hertel, der ehemalige Pfarrer von St. Lorenz.«
»Also doch . . .«, witzelte Paul.
»Aber nein«, tadelte ihn Fink und ließ beim Kopfschütteln seinen
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