Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Lilie zeigt, ist in einer der Bombennächte des Zweiten Weltkriegs umgekommen. Damit gab es keine erbberechtigten Verwandten mehr, und das Vermögen ging daraufhin laut Testament in öffentlichen Besitz über.«
Paul beobachtete, wie sich die für kurze Momente hoffnungsfrohe Miene der Witwe wieder in pure Resignation verwandelte. Tonlos sagte sie: »Dann können Sie sich diesen Zirkus hier ja sparen.«
»Aber finden Sie es denn nicht auch wichtig, dass die Herkunft Ihres Mannes endlich geklärt wird?«, hielt Paul dagegen.
Frau Henlein zuckte mit den Schultern. »Vielleicht . . . Na gut, was wissen Sie noch?«, fragte sie nun ein wenig versöhnlicher.
»Ich vermute, dass Ihr Mann besagte Bombennacht als einziges Familienmitglied der von Buchenbühls überlebt hat. Er war verletzt – das erklärt seine Narben – , wurde aber versorgt und schaffte rein äußerlich den Sprung in ein normales Nachkriegsleben. Sein Gedächtnis allerdings war seit den schockierenden Ereignissen jener Nacht ausgelöscht. Wahrscheinlich war das auch eine Art innerer Selbstschutzmechanismus: Vielleicht hatte er den Tod seiner Familie mit ansehen müssen und sein Gedächtnis hat ihn vor den schrecklichen Bildern geschützt, indem es seitdem die Erinnerung verweigerte.«
»Und das war bestimmt auch gut so«, behauptete Frau Henlein und nahm ihre abwehrende Haltung wieder ein: Sie stand auf und blickte Paul wie einen unerwünschten Eindringling an. Die Hände hatte sie demonstrativ in die Hüften gestemmt.
Mit ihrem Morgenmantel und den vielen Lockenwicklern im Haar sah sie nicht gerade respekteinflößend aus. Paul sagte versöhnlich: »Ich wollte den Schmerz über den Verlust Ihres Mannes nicht vergrößern. . .«
»Haben Sie aber!«
»Es tut mir wirklich sehr leid. Ich wollte Sie lediglich auf dem Laufenden halten.« Auch er erhob sich jetzt.
»Das haben Sie ja nun getan, Herr Flemming. Wenn ich Sie jetzt also bitten dürfte zu gehen.«
»Wollen Sie in dieser Angelegenheit denn nichts unternehmen?«, fragte Paul verständnislos. »Sie könnten erreichen, dass Ihr Mann wenigstens auf seinem Grabstein seinen tatsächlichen Namen trägt.«
Für einige Sekunden war Frau Henlein still. Ihr Blick schwankte zwischen Kummer und Wut. Dann sagte sie: »Sie wissen doch, dass wir wenig Geld hatten. Franz war nur ein kleiner Buchhalter bei den Verkehrsbetrieben. Er hat mich finanziell nicht gerade auf Rosen gebettet. Und selbst wenn Sie mit dieser Wappengeschichte richtig liegen würden, müsste ich mir einen teuren Anwalt nehmen, um das alles auch beweisen zu können. Dann würden bestimmt noch Notarkosten dazukommen und, und, und . . .« Unruhig wippte sie von einem Bein aufs andere. »Die fixe Idee mit dem Medaillon ist eine windige Sache, genauso wie die mit Kaspar Hauser. Jeder verspricht mir die tollsten Enthüllungen und will in Wirklichkeit nur an mein Geld. Hauser ist tot, und mein Mann ist es auch, basta! Lassen Sie mich also einfach in Frieden! Bitte!«
Paul kam das Gespräch über Henleins Lebensversicherung wieder in den Sinn, das er mit Katinka geführt hatte. »Sie kommen doch demnächst durch die Lebensversicherung zu etwas Geld – und es wäre bestimmt im Sinne Ihres Mannes . . .«
Mit energischem Griff fasste Frau Henlein Paul an den Oberarmen: »Es reicht, Herr Flemming. Meine Finanzen gehen Sie nichts an und mein Privatleben genausowenig. Was bilden Sie sich eigentlich ein?« Tränen sammelten sich an ihren Augenrändern. »Verschwinden Sie!«
»Aber, ich wollte . . .«
»Sie sollen verschwinden!«
Paul wog ab, ob er Frau Henlein noch von den neuesten Zweifeln an der Unfalltheorie im Zusammenhang mit dem Tod ihres Mannes berichten sollte, doch das hatte hier und jetzt wohl wenig Zweck.
Paul beugte sich dem Willen der Witwe, bückte sich noch einmal, um die Fotos einzustecken, und ging.
26
»Oh Mann, was für ein scheußliches Fahrrad! Und neue Schuhe könnten Sie sich auch mal wieder leisten, Ihre sind jedenfalls megaout.«
Paul hatte Hannah im ersten Moment gar nicht bemerkt, da sie in einer Nische neben seiner Haustür lehnte – ihre bevorzugte Art, ihm aufzulauern. Nun aber ließ er sein Rad erst recht gemächlich ausrollen und schwang sich selbstbewusst vom Sattel. Er musterte Hannah von oben bis unten. Trotz der frischen Temperaturen war sie ziemlich offenherzig gekleidet.
»Danke für das Kompliment«, sagte Paul und lächelte sie an. »Du siehst heute auch wieder unwiderstehlich aus. – Aber musst du
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