Paul, mein grosser Bruder
gesagt, dass du ihn gebeten hast ... «
»Gebeten oder weggeschickt, welche Rolle spielt das ?« , unterbrach er mich. »Wenn ich ihm zugehört hätte, dann hätte er sich nicht ... «
Er beendete den Satz nicht.
Meine Hände zitterten. Ich drückte sie fest gegen meine Schenkel, damit Daniel es nicht sehen konnte.
»Sich das Leben genommen, meinst du ?«
Er nickte stumm. Und ich wagte es kaum, meine Frage auszusprechen.
»Glaubst du wirklich, dass Paul sich das Leben genommen hat ?«
Daniel seufzte.
»Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Ich weiß es nicht. Manchmal glaube ich das. Und dann fühle ich mich...«
»Schuldig«, schloss ich den Satz ab.
»Genau das. Aber manchmal, oder besser gesagt, meistens, glaube ich, dass es ein Unfall war. Er war ja immer so träumerisch. Man musste seinen Namen mehrmals wiederholen, bevor er antwortete .«
»Ich weiß .«
»Und irgendwo da, in meiner Abweisung Pauls am letzten Abend seines Lebens, liegt meine Schuld. Dafür klagt er mich in meinen Albträumen an; dass ich nicht zugehört habe, dass ich ihm nicht geholfen habe. Dass ich so ... Dieser Scheißalkohol! Dass ich nicht begriffen habe, was er sagte. Wie konnte ich bloß so ... «
»Jetzt übertreibst du aber«, unterbrach ich ihn. »Du hast doch missverstanden , was er sagte. Das kann man dir doch nicht zum Vorwurf machen? Und ich glaube nicht, dass Paul sich das Leben genommen hat. Nein, das glaube ich wirklich nicht .«
Daniel sah mich erstaunt an. »Was lässt dich glauben, dass es kein Selbstmord war ?«
»Ich glaube es ganz einfach nicht. Er war traurig, klar. Er muss fürchterlich traurig gewesen sein. Aber er schreibt doch in seinem Tagebuch, dass er Mama und Papa von Petr erzählen möchte. Er will nur noch etwas abwarten. Sich sammeln nach all dem Schrecklichen, das geschehen war. Aber er wollte von Petr erzählen. Und im Übrigen, er schreibt ja auch über die Mondlandung. Er war ja ganz erfüllt von dem Gedanken, dass sie auf dem Mond landen würden. Das schreibt er in einem fort. Sogar am letzten Tag schreibt er über die Mondlandung. Ich glaube nicht, dass er das bewusst verpassen wollte .«
Daniel nickte. »Ja, das ist wohl wahr. Daran hatte ich nicht gedacht. Er hat tatsächlich ziemlich viel über diese Mondlandung geredet. Ja, daran habe ich nicht gedacht ... Ich habe selbst diese Satellitenbilder im Fernsehen gesehen. Ich erinnere mich immer noch an den Kamerawinkel als Neil Armstrong, oder wer es nun war, die Leiter hinabstieg und die Mondoberfläche erreichte. Er ... «
»Na, da hast du's doch«, unterbrach ich ihn.
» Du warst doch dem Tod eines Freundes ebenso nahe wie Paul auf seinem Waldspaziergang .«
»Was meinst du ?«
»Ich meine, dass man nicht einmal am ersten Tag nach dem Tod von jemandem völlig von Trauer erfüllt ist. Du konntest dir die Nachrichten ansehen, obwohl du geschockt und traurig warst über den Tod von Paul, und Paul konnte am Tag, nachdem sein Freund gestorben war, im Wald spazieren gehen. Das ist es, was ich meine; dass die Trauer nicht einmal während des ersten Tages konstant ist, sondern einen in Schüben erfasst, fast wie Wellen an einem Strand. Vielleicht ist es während der ersten Wellen etwas heftiger, aber dann bekommt man eine kleine Pause, bevor die nächste Welle an den Strand rollt. Und während dieser Pause kann man zum Beispiel fernsehen oder im Wald spazieren gehen. Man verhält sich wie immer während dieser Pausen. Verstehst du, was ich meine ?«
»Ja, ich verstehe. Und es stimmt wohl, dass die Trauer manchmal geringer zu werden scheint. Aber es stimmt auch, dass die Trauer ihr eigenes Leben lebt, dass man die Trauer nähren kann, indem man daran denkt. Dass man mit seinen Gedanken in der Trauer verharren kann, sodass sie letztendlich konstant wird. Sie gewinnt vielleicht sogar die Oberhand, sodass man sich nicht aus ihr befreien kann. Verstehst du? Die Trauer ergreift Besitz von einem .«
»Sicher«, sagte ich. »Ich verstehe das. Aber ich glaube nicht, dass Paul von seiner Trauer besessen war. Sein Tagebuch zeigt ja, dass er auch an andere Dinge dachte. Er wollte von Petr erzählen. Nicht nur von Petrs Tod. Sondern von Petr als Person, als ... als Geliebtem. Aber er schaffte es da noch nicht. Er glaubte wohl, dass es zu viel zu erklären gäbe. Und er schreibt ja auch, wie gesagt, über die Mondlandung. Ich glaube also nicht, dass er sich das Leben nahm. Und ich glaube absolut nicht, dass er dich wegen irgendetwas anklagt. Er kannte
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