Paul, mein grosser Bruder
dich doch, Daniel. Darum kam er zu dir, um Trost zu finden. Und du hast versucht, ihn zu trösten. Das war ja auch das Einzige, was du tun konntest, oder nicht? Du hättest Petr ja sein Leben nicht wiedergeben können. Das Einzige, das du tun konntest, war, Paul zu trösten. Man kann ja am Geschehenen nichts verändern. So gern man auch möchte .«
»Ja«, sagte Daniel nach einer Weile. »Das ist wohl wahr. Und meistens sehe ich Pauls Tod auch als Unfall. Nur manchmal, wenn ich mich traurig und niedergeschlagen fühle, bilde ich mir ein, dass er sich vielleicht das Leben genommen hat .«
»Du sagst es selbst«, sagte ich. »Immer wenn du selbst traurig und niedergeschlagen bist, nährst du deine Trauer über Pauls Tod mit dem Gedanken, dass du vielleicht selbst etwas mit seinem Tod zu tun hattest. Und dann bekommt die Trauer ein eigenes Leben. Dann ist die Trauer stärker als du .«
»Ja«, murmelte Daniel.
Wir schwiegen lange. Ich konnte sehen, dass er immer noch traurig war, aber irgendwie schien es, als wäre ich in sein Inneres vorgedrungen, als säße seine Traurigkeit nicht mehr so tief. Aber ich wusste nicht mehr, was ich noch sagen könnte. Es schien, als hätte ich alles in meiner Macht Stehende getan; ich hatte meine eigenen Gedanken und Überlegungen mit Zitaten von Mama und Papa gemischt. Meine gesamte Kindheit über habe ich ihre Gespräche über Paul gehört, über die Trauer nach seinem Tod. Vielleicht bin ich sogar die Frucht eines frühen Stadiums in der Trauerarbeit meiner Eltern. Und jetzt hatte ich zumindest versucht, Daniel bei seiner Trauer zu helfen.
»Du, ich glaube, ich gehe jetzt schnell nach Hause .«
»Natürlich«, sagte Daniel und schaute auf. »Es wird schon spät .«
Er erhob sich und ging zum Fenster. Er drehte sich um und sagte: »Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Aber ich bin so aufgewühlt. Ich mag dich. Ich möchte, dass du das weißt. Aber ich finde, wir sollten aufhören, so viel über Paul und Petr zu reden. Das macht nur traurig. Ich meine nicht, das wir sie komplett aus unserer Unterhaltung streichen sollten, aber wir sollten uns nicht zu sehr in all das Traurige, das in ihrem Leben passierte, vertiefen .«
»Aber es ist doch nicht alles traurig, was Paul widerfahren ist«, sagte ich. Das einzig Traurige, ich meine richtig Traurige, das Paul widerfahren ist, war ja Petrs Tod. Alles andere Traurige passierte ja nicht in Pauls Leben. Sondern in deinem und Mamas und Papas Leben. Ihr wurdet doch von dieser Trauer erfasst. Paul war doch schon tot. Es war doch gerade das, was eure Trauer hervorgerufen hat. Und wenn wir uns darüber unterhalten, was mit Paul geschehen ist, dann sprechen wir doch auch von eurer Trauer. Und dann wird diese Trauer doch aufgearbeitet. Deshalb finde ich, sollten wir über Paul reden .«
»Vielleicht hast du recht, Jonas .«
SIEBZEHN
Der Frühling kam . Und der Sommer kam. Ich habe angefangen, über dich zu schreiben, Paul. Über dich und Petr. Allerdings war das um einiges schwieriger, als ich geglaubt hatte. Häufig strich ich ganze Seiten; es wurde nicht wirklich das, was ich mir vorgestellt hatte. Oder besser gesagt, was ich glaubte, dass es gewesen wäre. Die ganze Zeit ging ich von deinem Tagebuch aus und dem, was meine Eltern und Daniel erzählt hatten. Aber meine romantisierende Erzählung von dir wurde entweder zu dramatisch oder rührselig bis weinerlich. Also strich ich. Und schrieb um. Ich war auf irgendeine Weise besessen davon, über dich zu schreiben, Paul, wie es wirklich war. Abends - nachdem ich zu Bett gegangen war - dachte ich intensiv an dich und hoffte, dass meine Gedanken dich dazu bringen würden, dich in meinen Träumen zu offenbaren. Aber ich träumte nicht von dir.
Ich schrieb gerade über die Walpurgisnacht, die Paul und Petr gemeinsam feiern wollten, als es an meiner Tür klopfte. Ich legte meine Papiere und das Tagebuch in die Schreibtischschublade, bevor ich antwortete.
Es war Mama.
»Hallo. Was machst du ?«
»Ein bisschen schreiben«, antwortete ich.
»Aha. Ich wollte nur fragen, ob du morgen ins Schwimmbad radeln möchtest .«
»Ich weiß nicht. Ich denke schon. Wieso?«
»Nun, es ist doch der einundzwanzigste«, antwortete Mama. »Stefan und ich wollten zum Friedhof fahren und neue Blumen auf Pauls Grab legen. Ich dachte, vielleicht willst du ja mitkommen .«
»Ja, das könnte ich«, antwortete ich. »Ich meine, ich komme gerne mit. Wann wollt ihr fahren ?«
»Ich weiß nicht. Wir
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