Paul, mein grosser Bruder
eines Schlüssels in der Haustür auf. Er öffnete die Augen und die Erinnerung an das Geschehene warf sich über ihn, schwer, beinahe erdrückend. Als wäre die Erinnerung ein körperliches Wesen.
»Paul?«
Seine Mama kam in sein Zimmer.
»Paul?«
Er warf seiner Mutter einen Blick zu.
»Hallo, Liebling. Schläfst du etwa schon ?«
Er nickte.
»Was ist los? Fühlst du dich nicht gut ?« Sie setzte sich auf die Bettkante und fühlte seine Stirn. »Du bist ja total heiß !«
»Ich habe wohl ein bisschen Fieber«, murmelte er. »Ich habe eine Weile geschlafen .«
»Hast du Temperatur gemessen ?«
Er schüttelte den Kopf.
»Möchtest du, dass ich ... «
»Nein«, unterbrach er sie. »Ich ... es geht mir wieder besser. Ich werde bald wieder auf dem Damm sein .«
»Ich hoffe nicht, dass du eine Grippe bekommst«, sagte sie besorgt. »Jetzt, wo es endlich Sommer ist.« Sie machte eine Pause und lächelte ihn an. »Und du Ärmster, der seine letzten Sommerferien genießen wollte. Bevor du aufs Gymnasium gehst, meine ich. Ich hoffe wirklich, dass du nicht krank wirst. Wer weiß? Nächsten Sommer hast du vielleicht nicht frei. Dann musst du dir vielleicht einen Ferienjob besorgen .«
Paul lag schweigend da. Er schloss die Augen und genoss es, ihre Hand sein Gesicht streicheln zu fühlen. Es war fast so, als wäre er wieder ein kleiner Junge. Oder…
Er zwang sich, nicht an Petr zu denken, und öffnete die Augen.
»Was hast du mit deinem Arm gemacht ?« , brach es aus Mama heraus. »Du bist ja völlig blutig .«
Er fühlte mit den Fingern über die schorfige Oberfläche.
»Ich bin gestürzt«, murmelte er. »Es tut schon nicht mehr weh .«
»Wir müssen es trotzdem reinigen«, sagte sie. »Übrigens, bist du baden gewesen ?«
Er schloss die Augen und nickte langsam.
»Vielleicht möchtest du noch etwas schlafen ?«
»Ja, ich glaube. Ein bisschen zumindest.«
»Dann wecke ich dich später, wenn wir essen .«
»Ja.«
Sie stand auf, um zu gehen.
»Nein! Warte !«
»Aber, Liebling. Was ist ?« Paul griff ihre Hand.
»Kannst du nicht noch etwas sitzen bleiben, bis ich eingeschlafen bin ?« , bat er.
»Natürlich. Natürlich. Selbstverständlich«, antwortete sie. »Selbstverständlich tue ich das .«
SECHZEHN
Der letzte Eintrag im Tagebuch meines Bruders wurde spät nachts am 21.Juli 1969, einem Montag, geschrieben. Kurz gefasst - fast stichpunktartig - schildert er die schrecklichen Ereignisse. Aber am Ende verändert sich seine Sprache, die Sätze werden länger...
Ich bin jetzt zu Hause. Liege im Bett. Oder sitze auf dem Schreibtisch und sehe aus dem Fenster. Ohne wirklich zu sehen. Ich weiß zumindest nicht, was ich sehe. Ich begreife nicht, dass er tot ist. Versuche ständig, an etwas anderes zu denken, aber meine Gedanken gehen immer zurück zu Petr. Oder an ein Nichts. Mama glaubt, dass ich krank bin, und ich lasse sie in dem Glauben.
Ich kann ihr nicht von Petrs Tod erzählen. Nicht jetzt zumindest. Ich habe keine Kraft, ihr all das andere zu erklären. Habe Angst, dass sie es nicht verstehen würde. Oder Papa. Aber ich möchte, dass sie von Petr und mir wissen. Mein Gott, ich erinnere mich kaum noch, wie er ausgesehen hat. Ich schaue mir die Fotos an, aber die wirken auch irgendwie tot. Sitze am Fenster und betrachte eine Weile den Mond. Er ist gerade im ersten Viertel, aber noch vor Halbmond werden sie die ersten Schritte auf seiner Oberfläche machen. Morgen wird das sein. Und Petr, der sich das nicht getraut hätte, darf das nicht einmal im Fernsehen sehen. Gott, was bin ich müde. Werde versuchen, wieder einzuschlafen.
Einige Abende später ging ich zu Daniel.
»Soso«, sagte Daniel und setzte sich mir gegenüber, »du willst etwas über Paul erzählen .«
»Ja. Allerdings möchte ich dich vorher etwas fragen .«
Er holte mit den Armen aus. »Natürlich. Schieß los .«
«Woher wusstest du, dass Petr nicht auf der Beerdigung war ?«
Daniel sah mich verwundert an. »Was meinst du ?«
»Na, als ich dich gefragt habe, ob die Person, in die Paul verliebt war, auf der Beerdigung gewesen sei, hast du gesagt, dass sie nicht dabei war. Woher wusstest du das ?«
Daniel senkte den Blick; er strich sich mit der Hand über seinen Oberschenkel.
»Woher wusstest du das ?« , wiederholte ich.
»Ja doch, ich werde es dir erzählen. Hetz mich nicht .« Er seufzte lang anhaltend. »Petr, oder Milenec, war aus dem einfachen Grund nicht auf der Beerdigung, weil er nicht konnte .« Er
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