Paul, mein grosser Bruder
verstummte, hob seinen Kopf und blickte mich an. »Er war nämlich tot .«
»Aber woher wusstest du das ?«
Er zuckte mit den Schultern. »Er war tot! Verstehst du, was ich sage ?«
»Ja, doch, ich verstehe. Aber woher wusstest du, dass er tot war? Wer hat dir das erzählt ?«
Er erblasste; er neigte den Kopf und verbarg sein Gesicht in den Händen.
»Hat Paul es dir erzählt ?« Daniel nickte.
»War er hier an dem Abend, bevor er starb ?«
»Ja«, flüsterte Daniel.
»Aber warum hast du nichts gesagt? Warum hast du mir das nicht erzählt? Du hast doch gewusst, dass ich es wissen wollte. Du ... « Dann hörte ich ihn weinen. Ich verstummte überrascht und sah ihn an. Erst nach einer Weile brachte ich es über mich, zu ihm zu gehen. »Weine nicht, Daniel«, flüsterte ich und nahm seine Hand. »Weine nicht .«
Er zog seine Hand zurück und starrte mich an.
»Weine nicht? Was meinst du wohl ?« , stieß er hervor. »Erst gräbst du die ganze schreckliche Geschichte wieder aus ... Du willst doch darüber reden. Obwohl es so traurig ist. Und dann sagst du mir, ich solle nicht weinen! Was soll ich denn sonst machen? Wenn ich mich traurig fühle. Wie sollte ich denn deiner Meinung nach reagieren? Hä?«
»Ich ... ich möchte nicht ... dass du traurig bist«, stammelte ich verwirrt.
Er schniefte. »Nicht traurig. Nicht weinen. Aber ich soll dir alle Details erzählen. Alle schrecklichen Details, die ich selbst am liebsten vergessen will.«
Er drückte seine Zigarette aus und zündete sofort die nächste an.
»Ich möchte es doch bloß wissen«, antwortete ich verunsichert. »Ich will wissen, was mit meinem Bruder geschah. Deshalb bitte ich dich, mir alles zu erzählen, Daniel. Ich ... ich weiß, dass das traurig ist...«
Er seufzte, stand auf und ging zum Fenster.
»Schon als du mit deiner -Untersuchung-angefangen hast, habe ich dir gesagt, dass dir vielleicht nicht gefallen wird, was du erfährst«, fing er an. »Dass du vielleicht deine Meinung ändern würdest über uns ... über uns, die dabei waren...«
»Du hast Angst, dass ich dich nicht mehr mögen würde ?« , unterbrach ich ihn.
Er drehte sich um und sah mich an. »Vielleicht.«
»Aber ich verstehe nicht«, sagte ich. »Warum sollte ich? Ich kann ja wohl niemanden verurteilen. Ich möchte nur wissen, was passiert ist. Weshalb sollte ich dich nicht mehr leiden? Oder dich verurteilen? Es war doch kein Verbrechen. Oder? Dann kann man doch wohl niemanden verurteilen ?«
Daniel lächelte. »Das sind doch nur Worte. Thesen. Du weißt doch nicht, wie du reagieren wirst .«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Nun, vielleicht. Aber ... «
Daniel unterbrach mich. »Woher wusstest du, dass Petr vor Paul starb? Denn du hast es gewusst, bevor ich das erzählte, oder ?«
»J a, ich habe es gewusst. Ich habe nämlich Pauls letztes Tagebuch gefunden. Davon wollte ich dir erzählen .«
Er wirkte atemlos; langsam ließ er sich in den Sessel nieder. »Ach so. Dann hat Paul ... also direkt vor seinem Tod Tagebuch geschrieben«, murmelte er.
»Ja. «
»Erzähl«, bat er und warf mir einen kurzen Blick zu. »Erzähl, was er über den letzten Tag geschrieben hat .«
Ich erzählte so ausführlich ich konnte.
»War das alles ?«
»Ja. «
»Wann hat er das geschrieben ?«
»Am zwanzigsten«, sagte ich. »Am Tag, bevor er starb.«
»Das habe ich begriffen. Aber zu welcher Tageszeit?«
»Spät. Sehr spät. Er war eingeschlafen, aber wieder aufgewacht und hat angefangen zu schreiben .«
»Und er hat nichts über mich geschrieben ?« Ich schüttelte den Kopf.
»Bist du sicher ?«
»Ja.«
Daniel seufzte. Er hielt die Hände gefaltet zwischen seinen Beinen. Ich konnte sehen, wie sich seine Augen mit Tränen füllten.
»Was ist ?« , fragte ich. »Ich begreife nicht .«
»Nun, Jonas«, setzte er an. »Ich ... es ist eine Erleichterung .«
Er lächelte etwas wehmütig und trocknete sich Tränen. »Dann erzähl ich es eben. Weil du es so gern möchtest. Schau, Paul kam am Tag, bevor er starb, hierher. Es war am späten Nachmittag. Ich weiß nicht, ob er zu Hause gewesen war oder direkt hierher radelte. Und ich ... ich war nicht nüchtern, als er kam. Ich hatte gesoffen und hatte ziemlich einen in der Krone. Paul fiel durch die Tür. Er weinte und war völlig verstört. Bat mich, ihn in die Arme zu nehmen. Wir saßen hier auf dem Sofa. Und dann sagte er, dass Petr tot sei. Ich hielt ihn in den Armen, streichelte sein Haar und flüsterte tröstende Worte. ‚Er
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