Pauline Reage - Geschichte der O
Nein, sagte sie sich jetzt, das stimmte nicht. Schrecklich ist es, lebend von Gottes Hand verstoßen zu werden.
Sooft Rene die Begegnung mit ihr hinausschob, wie er es heute getan hatte - denn es hatte bereits sechs Uhr geschlagen, bereits halb sieben - fühlte O sich vom Wahnsinn, von der Verzweiflung bedroht. Der Wahnsinn war nichtig, die Verzweiflung war nichtig, nichts war wirklich. Rene kam, er war da, er hatte sich nicht verändert, er liebte sie, eine Vorstandssitzung hatte ihn aufgehalten oder eine unvorhergesehene Arbeit, er hatte nicht Zeit gefunden, sie zu benachrichtigen. Mit einem Schlag tauchte O aus ihrer erstickenden Betäubung auf, und doch ließ jeder dieser Schreckensanfälle in ihrem Innersten eine dumpfe Unheilwarnung zurück.
Rene erschien endlich um sieben Uhr, er freute sich so sehr, sie wiederzusehen, daß er sie vor dem Elektriker küßte, der einen Scheinwerfer reparierte, vor dem kleinen, rothaarigen Mannequin, der aus der Schminkkabine trat, und vor Jacqueline, die, für alle überraschend, plötzlich hinter ihm auftauchte.
»Wie reizend«, sagte Jacqueline zu O, »ich wollte Sie um meine letzten Aufnahmen bitten, aber ich glaube, das ist nicht der rechte Augenblick, ich gehe wieder.«
»Mademoiselle, bitte«, rief Rene, ohne O loszulassen, die er um die Taille gefaßt hielt, »bitte gehen Sie nicht weg!«
O stellte Jacqueline und Rene einander vor. Der rothaarige Mannequin war verärgert wieder in der Kabine verschwunden, der Elektriker tat, als wäre er beschäftigt. O schaute Jacqueline an und spürte, daß Renes Blick ihr folgte. Jacqueline trug einen Skianzug, wie nur Filmstars ihn tragen, die nicht Skifahren. Der schwarze Pullover betonte die kleinen und weitauseinanderstehenden Brüste, eine lange, enganliegende Hose die langen Beine des Mädchens aus dem Norden.
Alles an ihr erinnerte an Schnee: der bläuliche Schimmer ihrer grauen Seehundjacke an den Schnee im Schatten, der Rauhreifglanz ihres Haares und der Wimpern an den Schnee in der Sonne. Sie trug ein Lippenrot, das ins Purpurfarbene spielte, und wenn sie lächelte und die Augen zu O erhob, dachte O, niemand könne dem Verlangen widerstehen, aus diesem grünen und lebendigen Wasser unter den bereiften Wimpern zu trinken und den Pullover von den kindlichen Brüsten zu reißen, um die Hände daraufzulegen.
Da war es wieder: kaum war Rene aufgetaucht, so fand sie in der Gewißheit seiner Existenz den Geschmack an den anderen und an sich selbst, an der ganzen Welt wieder.
Sie gingen alle drei gemeinsam weg. In der Rue Royale wirbelte der Schnee, der zwei Stunden lang in dicken Flocken gefallen war, nur noch in winzigen, weißen Körnchen, die sie ins Gesicht stachen. Das Streusalz auf dem Trottoir knirschte unter den Sohlen und löste den Schnee auf und O spürte, wie der Eishauch, der dabei frei wurde, an ihren Beinen hochstieg und um ihre nackten Schenkel schlug.
Was sie bei den jungen Frauen suchte, die sie verfolgte, wußte O sehr genau. Sie bildete sich nicht ein, mit den Männern zu rivalisieren, wollte auch nicht durch ein männliches Betragen ein Gefühl weiblicher Minderwertigkeit kompensieren, das sie keineswegs empfand. Mit zwanzig Jahren, als sie der hübschesten ihrer Kolleginnen den Hof machte, hatte sie sich allerdings einmal ertappt, daß sie die Mütze zog, um die andere zu grüßen, zurücktrat, um sie vorbeizulassen, und ihr beim Aussteigen aus einem Taxi die Hand bot. Auch bestand sie darauf, zu bezahlen, wenn sie gemeinsam in einer Konditorei Tee tranken. Sie küßte ihr auf offener Straße die Hand, gelegentlich auch den Mund, wenn es irgend ging. Aber dabei handelte es sich um Mätzchen, die sie aufführte, um die Leute zu schockieren, um Kindereien, nicht um eine Überzeugung. Die Vorliebe dagegen, die sie für die Süße sehr weicher, bemalter Lippen hegte, die unter den ihren nachgaben, für den Emaille- oder Perlenglanz der Augen, die sich im Dämmerlicht halb schließen, um fünf Uhr nachmittags, wenn die Vorhänge zugezogen sind und die Lampe auf dem Kaminsims brennt, für die Stimmen, die sagen: noch einmal, ah! Bitte, bitte, noch einmal, für den Tanggeruch, der an ihren Fingern haften blieb, diese Vorliebe war echt und tief. Ebenso lebhaft war das Vergnügen, das sie bei der Jagd empfand.
Dabei kam es ihr nicht so sehr auf das Jagen selbst an, so amüsant oder hinreißend es auch sein mochte, als vielmehr auf das Gefühl der vollständigen Freiheit, das sie dann verspürte. Sie gab den
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