Pauline Reage - Geschichte der O
um ihren wirklichen Namen zu vergessen und mit diesem wirklichen Namen die zärtliche Nestwärme des schmierigen Frauengemachs, um sich einen Platz im hellen Licht Frankreichs zu schaffen, in einer soliden Welt, in der es Männer gibt, die einen heiraten und die nicht auf geheimnisvollen Expeditionen verschwinden wie ihr Vater, den sie nie gekannt hatte, der baltische Seemann, der im Polareis verschollen war.
Ihm allein war sie ähnlich, sagte sie sich voll Zorn und Entzücken, von ihm hatte sie das Haar und die Wangenknochen und die getönte Haut und die schräggeschnittenen Augen Sie war ihrer Mutter einzig dafür dankbar, daß sie ihr diesen blonden Teufel zum Vater gegeben hatte, der in den Schoß des Schnees zurückgekehrt war wie andere Menschen in den Schoß der Erde. Aber sie zürnte ihr, weil sie ihn so gründlich hatte vergessen können, daß eines Tages ein kleines, dunkles Mädchen, das Kind einer kurzen Liaison, geboren wurde, eine Halbschwester, Vater unbekannt, die Natalie hieß und jetzt fünfzehn Jahre alt war. Man bekam Natalie nur in den Ferien zu Gesicht. Ihren Vater niemals.
Aber er bezahlte für Natalie das Pensionsgeld in einem Internat bei Paris und für Natalies Mutter eine Rente, von der die drei Frauen und die Dienerin - und sogar Jacqueline bis dato - bescheiden lebten, in einem Müßiggang, der für sie das Paradies war. Was Jacqueline in ihrem Beruf als Mannequin verdiente, oder als Modell, wie man nach amerikanischem Stil sagte, und was sie nicht für Schminken oder Wäsche ausgab oder für Schuhe aus ersten Häusern oder Kleider aus ersten Häusern - Käufe zu Vorzugspreisen, die jedoch immer noch sehr hoch waren - floß in die Familienkasse und verschwand auf unerklärliche Weise. Sicher, Jacqueline hätte sich aushalten lassen können, an Gelegenheit dazu hätte es ihr nicht gefehlt.
Sie hatte sich einen oder zwei Liebhaber zugelegt, weniger weil sie ihr gefielen - sie mißfielen ihr nicht - als um sich zu beweisen, daß sie imstande war, Begehren und Liebe zu wecken. Der eine der beiden, der zweite, der reich war, hatte ihr eine sehr schöne, rosig getönte Perle geschenkt, die sie an der linken Hand trug, aber sie hatte sich geweigert, bei ihm zu wohnen und da er sich weigerte, sie zu heiraten, hatte sie ihn ohne großes Bedauern verlassen, erleichtert darüber, daß sie nicht schwanger war (sie hatte es befürchtet und ein paar Tage lang in Entsetzen gelebt). Mit diesem Geliebten zusammenzuwohnen, hieß, das Gesicht zu verlieren, die Chance auf eine Zukunft zu verlieren, es wäre das, was ihre Mutter mit Natalies Vater gemacht hatte, es war unmöglich.
Aber mit O war alles anders. Eine höfliche Fiktion erlaubte die Auslegung, Jacqueline installierte sich einfach bei einer Freundin, machte Halbpart mit ihr. O erfüllte einen doppelten Zweck, sie spielte für Jacqueline die Rolle des Geliebten, der das Mädchen unterhält, das er liebt, oder zu ihrem Unterhalt beiträgt, und die im Prinzip entgegengesetzte Rolle einer moralischen Bürgschaft. Renes Anwesenheit war nicht so offiziell, daß sie die Fiktion ernstlich gefährdet hätte. Doch wer konnte sagen, ob der Grund, warum Jacqueline das Angebot angenommen hatte, nicht eben diese Abwesenheit Renes war? Sicher war jedenfalls, daß es Os und ausschließlich Os Sache war, bei Jacquelines Mutter vorzusprechen.
Niemals hatte O sich so entschieden als Verräterin, als Spionin gefühlt, als Abgesandte einer verbrecherischen Organisation, als vor dieser Frau, die ihr für ihre Freundlichkeit gegenüber der Tochter dankte. Zugleich verleugnete sie im Grund ihres Herzens ihren Auftrag und den Grund ihres Kommens. Ja, Jacqueline würde zu ihr ziehen, aber nie, niemals würde O ihren Gehorsam gegenüber Sir Stephen so weit treiben können, daß sie Jacqueline ins Verderben zöge.
Und doch … Denn Jacqueline hatte sich kaum bei O installieren und zwar - auf Renes Verlangen - in dem Zimmer, das Rene zuweilen scheinbar bewohnte (scheinbar, da er immer in Os großem Bett schlief), als O sich wider alle Erwartung von dem heftigen Begehren überrascht fand, Jacqueline zu besitzen, koste es, was es wolle, und wenn sie, um ihr Ziel zu erreichen, Jacqueline ausliefern müßte.
Schließlich, sagte sie sich, war Jacquelines Schönheit ihr bester Schutz, was habe ich mich einzumischen, und wenn man sie soweit bringen sollte, wie man mich gebracht hat, ist das ein so großes Unglück? Und sie gestand sich selbst nicht ein, obgleich der Gedanke
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