Paxson, Diana L.
der Inschrift auf dem Tristan-Stein (die ich per Zufall entdeckte, als das Buch beinahe fertig war und ich bereits den Schluß gezogen hatte, daß Esseilte mit Drustan begraben worden sein mußte), läßt nur den einen Schluß offen, daß auch Esseilte eine historische Person ist. Wenn, dann muß sie Branwen oder jemanden wie sie als Dienerin gehabt haben.
Mein erster Versuch, die Tristangeschichte nachzuerzählen, reicht zurück in meine Studienzeit, als ich aus Gründen, an die ich mich nicht mehr entsinnen kann, meinem Professor für mittelalterliche französische Literatur eine Zusammenfassung der Geschichte einreichte, in französischen Reimpaaren, illuminiert. Obgleich meine Version Thomas oder Beroul keine Konkurrenz gemacht hätte, muß sie eine willkommene Abwechslung von schlechtgetippten Seminararbeiten gewesen sein. Jedenfalls bekam ich eine Eins.
In jener Version blieb ich den traditionellen Elementen der Geschichte treu. Aber im College studiert man Liebe als inoffiziellen Teil des Curriculums. Ich fragte mich, wie es gewesen sein mochte, mit einer der großen Liebesbeziehungen der Weltgeschichte zu leben – insbesondere für diejenigen, die die Folgen zu tragen hatten. Wenn man sich die Geschichte anschaut, so erschien es mir, daß ohne Branwens Hilfe die ganze Sache unmöglich gewesen wäre; denn in jeder Krise der Geschichte ist es Branwen, die die Scherben aufsammelt, ohne je einen Lohn dafür zu erhalten. Was mich schließlich überzeugte, war meine Neugierde über Branwen selbst. Geschichte und Literatur sind voller großer Liebender, aber wie oft sieht man darin diese Art von Treue?
Und dann kam March in die Geschichte hinein und trug Branwen mit sich fort, und was ein kleines Handlungselement in der mittelalterlichen Geschichte gewesen war, wurde der Angelpunkt in meiner. Plötzlich war es nicht bloß eine Geschichte über ein Liebespaar, sondern über die Bedeutung von Herrschaft.
Die Hauptereignisse in Marchs späterem Leben sind hinreichend dokumentiert (am zugänglichsten in John Morris' umfassenden Buch The Age of Arthur.) Die Legende von Tristan und Isolde ist der Höhepunkt eines der Hauptthemen der keltischen Literatur – die Geschichte einer Frau, die sich einen jungen Helden zum Liebhaber erwählt, nachdem sie mit einem älteren Mann verheiratet worden ist. Wenn solch eine Geschichte mit wirklichen Menschen verbunden wurde, dann muß sie in irgendeiner Weise mit den tatsächlichen Ereignissen ihres Lebens in Einklang gestanden haben. In diesem Buch habe ich versucht, Geschichte und Legende zusammenzubringen und zu zeigen, wie so etwas diesen Menschen in diesem Teil der Welt in dieser historischen Situation widerfahren sein mochte.
Aber wo endet die Wirklichkeit? Ich habe immer die wirkliche Welt als so seltsam und wundersam empfunden wie irgendein Werk der Phantasie. Für mich ist die innere Welt so wirklich wie die äußere, und die Ereignisse, die sich im Reich von Archetypus und Legende zutragen, geben dem, was sich in den bekannten Gefilden zuträgt, seine Bedeutung. Der Leser mag selbst entscheiden, wieviel davon Phantasie und was Wirklichkeit ist.
Magie und Religion
Sieht man den Reichtum an volkstümlichen Bräuchen, der bis ins neunzehnte Jahrhundert auf den britischen Inseln überlebt hat, so liegt es nahe anzunehmen, daß im sechsten Jahrhundert die heidnischen Feste des Jahreskreises noch ganz offen gefeiert werden konnten, wenngleich einiges von ihrer Bedeutung unscharf zu werden begonnen haben mag. Um Morris zu zitieren: ›Das Christentum war [im sechsten Jahrhundert] immer noch die Religion der Könige und Fürsten und Städter, und nichts läßt darauf schließen, daß irgend etwas außer dem Namen die Masse der ländlichen Bevölkerung berührt hatte, ehe die Mönche kamen‹ (S. 372).
Wenngleich alle keltischen Länder zu dieser Zeit offiziell christlich waren, dürfte das Volk weiterhin seine Kräuterweisheit, Haushaltszauber und Alltagsmagie ausgeübt haben. Die alten Mythologien entwickelten sich allmählich zur Feenkunde. Die Kirche, insbesondere die keltische Kirche, versuchte den Übergang zu erleichtern, indem sie den einfachen Leuten gestattete, jene Praktiken und Kultstätten beizubehalten, die das Herz ihres Geisteslebens waren, und die Liebe zum Gott der Natur statt des Höllenfeuers predigte. Vielleicht sahen die frühen Priester die beiden Religionen eher als einander ergänzend denn als gegensätzlich an. Jedenfalls hatten die Menschen mehrere
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