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»Informations-Kaskaden«, die einem sehr einfachen Prinzip folgen. Jeder kennt das, dass er sich plötzlich einer Mehrheitsmeinung anschließt, obwohl er nicht überzeugt ist. Oder einen Kult-Drink trinkt, nur weil ihn alle trinken. Der Jurist Cass R. Sunstein hat das an einem eingängigen Beispiel illustriert. 157 Nehmen wir an, Sie sitzen in einer Gruppe zusammen, in der eine Entscheidung getroffen werden soll, ob man sich ein Elektroauto oder einen Benziner kaufen soll. Keiner im Raum hat bei so einer Frage die wirklich entscheidende, absolut eindeutige Information, die die Antwort selbstverständlich macht - sonst säße man ja nicht beieinander. Es geht der Reihe um, jeder spricht nacheinander. Jeder hat eine Meinung, was er für richtig hält, aber jeder hört natürlich auch auf das Urteil der anderen.
Als Erstes meldet sich Maria, die sich sicher ist, dass man ein Elektroauto kaufen sollte. Jetzt kommt Peter. Entweder will Peter auch in ein Elektroauto investieren, dann ist die Sache klar. Es könnte aber auch sein, dass Peter zum Benziner tendiert. Wenn er Marias Urteil so traut wie seinem eigenen, ist die Sache unentscheidbar - er könnte genauso gut würfeln. In unserem Fall entscheidet sich Peter auch für das Elektroauto. Als Dritter meldet sich Hans. Hans ist überzeugt, dass Elektroautos nichts taugen. Er glaubt an Benziner, hat aber auch keine endgültige schlagende Information. Was nun folgt, ist eine Informationskaskade: Hans könnte sich nämlich trotzdem für das Elektroauto entscheiden, auch wenn er die Entscheidung für einen Fehler hält. Person 1, so lautet unsere unbewusste Überlegung, muss etwas gewusst haben, um sich mit 51-prozentiger Sicherheit für das Elektroauto entschieden zu haben. Person 2 hat entweder Informationen gehabt, die auch für das Elektroauto sprechen, oder sie hatte Informationen, die für den Benziner sprechen. Die waren aber augenscheinlich nicht überzeugend genug. Alles spricht also dafür, das Elektroauto zu wählen, wer weiß, vielleicht wissen die anderen ja mehr als wir. Sitzen an diesem Tisch noch drei weitere Personen, alle mit unvollständigem Wissen ausgestattet (und wer könnte bei solchen Dingen schon wirklich wissen, welcher Weg zum Ziel führt), ist es mehr als möglich, dass sie sich dem Urteil von Maria anschließen, auch wenn sie das Urteil für einen Fehler halten.
Solche Kaskaden erklären viele Moden und Massenphänomene, wo Menschen, die unsichere Informationen haben, sich anderen anschließen, ohne dass das, siehe Aktienblasen, irgendwas über den Wert der Information aussagt. Im Gegenteil: Maria könnte alle, die sich ihr anschließen, ins Unglück führen, etwa so, wie die Börsengurus des Jahres 2008 es mit vielen Menschen getan haben.
Diese Kaskaden sind das Wesen des Internets, denn sie werden durch die Algorithmen, die die Entscheidungen in Links oder Suchbegriffe, in Traffic oder Feedbacks übersetzen, noch gesteigert. Wie dramatisch synthetische Informationskaskaden funktionieren können, zeigt im Augenblick Twitter, der populärste Vorbote digitaler Kommunikation. Twitter, dem in Kürze weitaus mächtigere Systeme im Echtzeit-Internet folgen werden, ist nichts anderes als ein Gerät, um mit minimalen Mitteln Informations-Kaskaden zu erzeugen. 140 Zeichen Text können durch eine Art soziale Infektion potenziell globale Lemming-Effekte auslösen.
Wenn Ashton Kutcher, der mehr Followers hat als fast alle deutschen Tweeds zusammen, den Satz schreibt »Schaue aus dem Fenster«, könnte diese Information schon ausreichen, eine Kaskade auszulösen. Das Problem liegt auf der Hand: das kann einerseits zu aufklärerischen Effekten führen, wie die rein aus dem Internet geborenen Aktionen gegen die Netzsperren.
Das Netzsperrengesetz ist ein Paradebeispiel unvollständiger Information von Seiten einer Regierung. An ihm stimmten weder die behauptete Marktplatzfunktion des Netzes, noch die Angaben über ökonomische Struktur des Marktes, noch die Behauptungen über die technische Wirksamkeit.
Aber viele Informationskaskaden produzieren Konformismus, vorhersehbare Entscheidungssituationen und Herdeneffekte, die das Gegenteil von individueller Aufmerksamkeit sind. Auch das ist einer der Automatismen, der zwar in unserem Leben tief verankert ist, den aber die neuen Technologien massiv verstärken. Es ist schwer, dagegen Widerstandskraft aufzubringen, wenn die Aufmerksamkeit bereits aufgefressen worden ist. Gleichzeitig kann es in jede Richtung
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