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Pechstraehne

Pechstraehne

Titel: Pechstraehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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besucht?«
    »Nein, Frau Gieger, ich war noch nie bei Ihnen zu Besuch. Mein Name ist Lenz, und ich komme von der Kasseler Polizei.«
    Sie nickte erneut.
    »Das sagten Sie bereits«, stellte sie mit kaum wahrnehmbarer Stimme fest. »Aber was will die Polizei von mir?«
    »Mein Kollege und ich wollen Ihnen, wie gesagt, ein paar Fragen zu Ihrem geschiedenen Mann stellen, Rudolph Gieger. Erinnern Sie sich an ihn?«
    Margot Gieger drehte langsam und mit großer Mühe ihren Kopf und warf dem Polizisten einen tadelnden Blick zu.
    »Was fällt Ihnen ein, mein Gedächtnis infrage zu stellen?«
    Lenz setzte ein möglichst entschuldigendes Gesicht auf und legte dabei die Stirn in Falten.
    »Nun ja, das liegt mittlerweile so viele Jahre zurück«, erwiderte er kleinlaut.
    »37 Jahre, vier Monate und ein paar Tage, um exakt zu sein.«
    »Das wissen Sie so genau?«
    »So genau, als sei es gestern gewesen, ja.«
    »Und wollen Sie mir erzählen, was sich damals ereignet hat?«
    Sie richtete den Kopf wieder geradeaus.
    »Ich habe nicht mehr viel Zeit, das weiß ich, aber wenn ich jetzt mit Ihnen über die Ereignisse von damals rede, könnte es noch ein wenig schneller zu Ende sein.«
    »Wie meinen Sie das?«
    Die Frau sah erneut in Richtung des Polizisten.
    »Können wir das unter vier Augen besprechen?«
    »Meinen Kollegen würde ich gern dabei haben, wenn Ihnen das nichts ausmacht.«
    »Nein, das macht mir nichts aus.«
    Lenz warf der Schwester einen auffordernden Blick zu, die nach einer kurzen Denkpause lustlos und eher widerwillig das Zimmer verließ.
    »Ist sie weg?«, wollte Margot Gieger wissen, nachdem sich die Tür hinter der Pflegerin geschlossen hatte.
    »Ja, wir sind jetzt unter uns«, bestätigte der Hauptkommissar.
    »Ich muss das fragen«, erklärte sie matt und kaum hörbar, »weil ich als Folge meiner starken Diabetes kaum noch etwas sehen kann.«
    »Das tut mir leid.«
    »Ach, lassen Sie mal. Wenn Sie fast 40 Jahre im Bett liegen müssen, weil Ihnen die Beine und die meisten Funktionen der Arme abhandengekommen sind, macht Sie der Verlust der Sehkraft auch nicht mehr sonderlich unglücklich. Es ist einfach ein weiterer Mosaikstein auf dem Weg in den Tod, nicht mehr und nicht weniger.«
    Die klare Art, wie sie trotz ihrer Flüsterstimme die Worte aussprach, schnürte Lenz für ein paar Sekunden die Kehle zu.
    »Und jetzt ist wohl der Zeitpunkt gekommen, um reinen Tisch zu machen, wie man sagt«, fuhr sie fort.
    »Wenn Sie das möchten, hören wir Ihnen gern dabei zu.«
    »Sagen Sie mir zuerst, ob mein Exmann noch lebt?«
    »Ja, er lebt noch.«
    Über das Gesicht der Frau im Bett huschte so etwas wie die Andeutung eines Lächelns.
    »Ja, das stand zu erwarten. Die Giegers waren schon immer mit einem langen Leben gesegnet. Oder dazu verflucht wie ich.«
    Ihre Züge wurden wieder hart.
    »Ich habe damals wirklich keinen anderen Ausweg gesehen, als mein Leben zu beenden. Sechs Jahre hatte ich es in diesem goldenen Käfig ausgehalten, habe alle Schmähungen und Beleidigungen über mich ergehen lassen, die von Seiten seiner Eltern und Großeltern kamen, weil es mit einem Kind nichts geworden ist, bis ich einfach nicht mehr konnte und aus dem Fenster gesprungen bin. Und Sie können mir glauben, dass mir dieser letzte Schritt, trotz aller Leiden, die ich durchlebt hatte, nicht leichtgefallen ist.«
    Sie schluckte krampfhaft.
    »Wir wissen«, bemerkte Lenz leise, »dass Sie damals versucht haben, sich das Leben zu nehmen, Frau Gieger. Und es steht uns nicht an, über Ihre Beweggründe zu urteilen.«
    »Wenn Sie sich vorstellen könnten, wie verzweifelt ich damals war, würden Sie mich vermutlich verstehen. Und es ist seitdem kein Tag in meinem tristen Leben vergangen, an dem ich mich nicht dafür verflucht habe, nicht noch das eine Stockwerk höher gegangen zu sein. Dann wären mir vermutlich die ganzen Jahre als Pflegefall erspart geblieben, die ich in verschiedenen Heimen erleben durfte.«
    »Sie waren seitdem nie wieder zu Hause?«
    »Ich hatte mit meiner Entscheidung, aus dem Leben scheiden zu wollen, mein Zuhause verlassen. Aufgegeben. So sah es zumindest die Familie Gieger.«
    Die alte Frau presste die Lippen zusammen.
    »Die Scheidung ging sehr schnell. Kaum ein halbes Jahr danach war ich geschieden.«
    »Ein halbes Jahr? Geht das denn?«
    »Vergessen Sie nicht, dass es zu dieser Zeit noch ein anderes Scheidungsrecht gab. Man wurde entweder schuldig oder nicht schuldig geschieden, das Zerrüttungsprinzip kam erst ein

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