Pechstraehne
noch kurz Platz zu behalten.
»Wir kommen nicht umhin, über die anstehende Schmerztherapie zu sprechen, Herr Anselm. Bitte nehmen Sie sich noch einen Augenblick Zeit dafür.«
Während der nächsten Minuten folgte eine knappe Abstimmung des weiteren Vorgehens, um dem Pensionär die letzten Wochen seines Lebens so erträglich wie möglich zu machen, dann verabschiedeten sich die beiden voneinander.
Herbert Anselm verließ das Klinikum durch den Hauptausgang, überquerte die Mönchebergstraße, setzte sich auf der anderen Straßenseite auf die Terrasse eines Cafés und bestellte sich ein großes Bier, das er genüsslich leerte, bevor das Getränk auch nur den Hauch einer Chance hatte, sich zu erwärmen.
Während er ein weiteres Glas bestellte, fragte er sich, wann er zuletzt vor Feierabend ein Bier getrunken hatte, konnte sich jedoch auch nach längerem Nachdenken nicht erinnern. Vermutlich als Jugendlicher, dachte er schließlich zufrieden schmunzelnd.
Überhaupt wäre es dem ehemaligen Bundeswehroffizier während seiner aktiven Zeit niemals in den Sinn gekommen, so etwas zu tun. Undenkbar. Und nach seiner Pensionierung vor elf Jahren hatte er möglichst lang versucht, die gewohnten Routinen aufrechtzuerhalten. Er war genauso zeitig zu Bett gegangen und aufgestanden wie während seines Arbeitslebens, hatte weiterhin auf gesunde Ernährung und ausreichend Sport geachtet wie zuvor und war auch während der vielen Urlaubsreisen, die er unternahm, nicht von diesen Maximen abgewichen. Erst nachdem vor gut zwei Jahren bei ihm ein Leberkarzinom diagnostiziert worden war, hatte er ein wenig die letzte Konsequenz aufgegeben und war öfter mal morgens etwas später aufgestanden.
Weil er seit der lang zurückliegenden Scheidung von seiner Frau keine Partnerin mehr gesucht oder gefunden hatte, konnte er sein Leben gestalten, wie es ihm passte, was darin mündete, dass er drei Jahre zuvor in das vornehme Seniorenstift gezogen war, wohin er nach dem zweiten Glas Bier aufbrach.
Während die Straßenbahn der Linie 1 durch die Stadt rumpelte und er aus dem Fenster sah, dachte Herbert Anselm zum ersten Mal, seit er die Klinik verlassen hatte, über den Tod nach. Nicht, dass dieser Gedanke ihn in den letzten Monaten nicht stark beschäftigt hätte, nein, er war sich seit längerer Zeit sicher, dass sein Leben bald zu Ende gehen würde. Nun allerdings, mit dem doch recht überschaubaren Zeitrahmen bis zum endgültigen Termin, war offenbar eine Veränderung in seinem Denken eingetreten, wie er ein wenig irritiert feststellte. Gab es in den Monaten zuvor schwer einzugestehende Momente, in denen leise Anflüge von Furcht vor dem Unausweichlichen bei ihm aufgekommen waren, so hatte die Klarheit, die er nun hatte, etwas Beruhigendes, wirkte sich nahezu befreiend auf ihn aus. Und während sich diese Beruhigung breitmachte, tauchten vor seinem geistigen Auge Bilder aus seinem Leben auf.
Herbert Anselm als Kind, das, stolz wie Oskar, zum ersten Mal auf dem Fahrrad sitzt. Der erste Kuss. Das erste Mal mehr, immer mit der gleichen Frau, die er als 22-Jähriger heiratet, und die sich mit 47 von ihm scheiden lässt. Davor, dazwischen und danach nichts mit einer anderen. Niemals. Der Eintritt in die Bundeswehr, noch als Wehrpflichtiger. Die steile Karriere. Zu seinem Erstaunen nun die Bilder vom Mauerfall `89, den er nach einem Autounfall als Rekonvaleszent im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz erlebt. Die für ihn viel zu früh kommende Pensionierung.
Die vielen Orte, an die ihn sein Beruf geführt hat, die vielen Kasernen, die er gesehen hat. Martha Zacharias, die zweite Frau, der er seine Liebe gestand, und die ihn, wenn auch mit warmen, einfühlsamen Worten, zurückgewiesen hatte. Wie sie mit diesem zufriedenen Gesichtsausdruck in der Badewanne gelegen hatte.
Ein laut geplärrtes »Fahrkartenkontrolle« und ein Stupsen an seiner Schulter holte Herbert Anselm in die Realität zurück. Er hob den Kopf, blickte nach rechts und sah in das genervte Gesicht eines Mannes.
»Ihren Fahrschein, bitte.«
Anselm griff nach seiner Brieftasche, zog die Jahreskarte heraus, hielt sie dem Kontrolleur unter die Nase und schob sie zurück.
»Nicht so schnell, ich hab ja gar nichts erkennen können«, beschwerte der sich. »Geben Sie mal her, das Ding.«
Der ehemalige Soldat holte tief Luft, zog erneut die Fahrkarte heraus, reichte sie nach oben und sah wieder aus dem Fenster.
»Geht doch. Warum nicht gleich so?«, murmelte der in grau gekleidete
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