Pedro Juan Gutiérrez
Erinnerungen. Immer noch kennen mich dort zu viele Leute. Und um acht Uhr früh sind alle auf der Straße, laufen umher, halten Ausschau, immer auf der Suche nach Pesos. Ich musste mich verstecken. »Ich helfe dir, Pilger, ich helfe dir, Pilger.« Aber nichts fiel mir ein. Na gut. Ich verließ den Bahnhof und ging ein Stück. Aus einiger Entfernung sah ich das Haus, in dem ich fünfundzwanzig Jahre lang gewohnt hatte. Ich war dort glücklich gewesen, wusste es nur nie. Man weiß erst, wie glücklich man war, wenn es vorbei ist. Ich hatte eine Cousine in Matanzas. Irgendwie gelangte ich zu ihrem Haus, ohne recht zu wissen, was ich ihr sagen sollte, aber auch ohne einen alten Freund (oder schlimmer: einen alten Feind) zu treffen. Sie war ein liebes Mädchen, verheiratet mit einem sehr fleißigen, rauen Typ, der sie mit seinem Herz aus Schmirgelpapier richtig zu bearbeiten verstand.
Sie brachte mir Kaffee, kochte mir Reis mit Bohnen, ich langte zu und hielt eine lange Siesta. Dann fühlte ich mich besser und dachte, es sei eigentlich an der Zeit, zu gehen, als ihr Mann heimkam. Er besaß ein Stück Land in den Außenbezirken von Matanzas. Mit seinen sechzig Jahren war er noch ein kräftiger Mann. Wir tranken schlechten, nach Kerosin stinkenden Rum. Aber er lobte ihn, als handele es sich dabei um erstklassigen Brandy. Ich hatte die Idee, ihnen zu erzählen, dass ich ziemlich angespannt wäre, in psychiatrischer Behandlung und ohne Job, und dass ich mich eine Weile außerhalb von Havanna erholen musste. »Oben auf meinem Dach denke ich nur daran, die vierzig Meter hinunter auf die Straße zu springen.«
»Sag so etwas nicht, Pedrito! Möge dir Gott vergeben«, sagte meine Cousine.
»Ich bin dieses ganze Elend, diesen ewigen Hunger und die vielen Menschen um mich herum leid. Jeder will dich immer nur übers Ohr hauen, ein paar Pesos aus dir herausschlagen, um jeden Preis. Weil Armut so ist. Scheiße schreit nach Scheiße.«
Daraufhin sagte der Mann zu mir:
»Bleib hier bei uns und ruh dich ein wenig aus. Und wenn du nichts hören und nichts sehen und keine Leute treffen willst, ziehst du in die Hütte auf meinem Stück Land. Und dann gehst du mir etwas zur Hand. Kannst du auf dem Acker arbeiten?«
»Ich mache alles. Was baust du an?«
»Yucca, Mais, Bohnen, Süßkartoffeln, Kürbis, Erdnüsse. Von allem etwas. Gott sei Dank müssen wir dadurch nicht verhungern. Das Fleckchen ist schwer erreichbar, und der Boden ist reich. Vorher war der Hügel mit aroma und marabú bewachsen. Was immer man dort pflanzt, gedeiht.« »In Ordnung. Ich bin dabei.«
Am nächsten Morgen weckte er mich um fünf Uhr, und wir marschierten hügelaufwärts zu seinem Acker. Als wir ankamen, tagte es. Es war das Paradies. Viele Jahre war es her, seit ich das letzte Mal durch Nebel und Tagesanbruch über die Berghänge gewandert war, im Hintergrund ein paar verschwommen zu erkennende Kühe in pitschnassem Gras. Und all die Bäume und dieses Graugrün. Der Mann hatte eine Guanohütte und sogar einen Brunnen. Ich richtete mich dort ein und gab ihm eine Nachricht für meine Cousine mit auf den Weg: »Hier werden meine Nerven sich wieder erholen. Wenn jemand nach mir fragen sollte, weißt du von nichts.«
Hier bin ich also, ein geflohener Sklave. Meine Cousine behauptet, ich sei schon immer verrückt gewesen. »Lass ihn einfach da oben, er wird sich schon von selbst langweilen, so allein.«
Aber nein. Es ist zu schön, so allein auf diesem grünen und blauen Berg. Ohne sich um etwas kümmern, ohne etwas befürchten zu müssen. Ohne etwas zu erwarten. Nur Erde und Himmel und Grün. Es ist hier wirklich wunderschön. Abgesehen davon: Wenn man mich in Havanna schnappen sollte, würde man mir die Eier abreißen.
II.
Nichts zu tun
Wenn man sagt, ein Mann sei ein Tiger, heißt das
nicht, er habe die Pranken und das Fell eines Tigers.
Shri Ramakrishna
Städte, genau wie Träume, werden aus den
Sehnsüchten und Ängsten gebaut, auch wenn
der Faden ihres Diskurses geheim, ihre Regeln
absurd, ihre Perspektiven enttäuschend sind und
sich unter allem etwas anderes verbirgt.
Italo Calvino, Unsichtbare Städte
Nichts zu tun
Gegen Mittag besuchte ich meine Tante in Alt-Havanna. Sie hat Darmkrebs. Die Ärzte haben sie längst aufgegeben. Sie wollen sie nicht im Krankenhaus behalten, weil sie nicht wissen, was sie mit ihr machen sollen. Ärzte sind gute Diplomaten. Niemals stellen sie ihre Ignoranz oder
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