Peetz, Monika
Hinsicht
beratungsresistent. Es leuchtete ihr nicht ein: Regine wurde bald siebzig und
war ihre Großmutter. Und eine Oma nannte man Oma. Basta. Eva hatte vollstes
Vertrauen, dass die neue Generation eine wunderbare Zukunft vor sich hatte.
Regine
würde es großartig finden, dass Eva auf Selbstfindungspfaden wandelte. »Drei
Wochen Indien, dann halte ich wieder elf Monate Köln aus«, pflegte sie früher
zu verkünden. Als Kind hatte Eva das Gefühl, dass auch sie Teil dessen war,
was Regine nur mit Mühe aushielt. Regines Ausflüge in den Ashram waren für Eva
Inseln der Glückseligkeit. Denn dann wurde sie bei Lore untergebracht, der
gestrengen Großmutter. Oma Lores fester Regelkatalog, zu dem auch der
sonntägliche Kirchgang gehörte, war für Eva ein wohltuendes Kontrastprogramm.
Eva liebte die Verlässlichkeit, das Aufgehobensein, selbst die Verbote. Und die
Kirche sowieso. Eva war glücklich, als sie feststellte, dass Frido praktizierendes
Mitglied einer katholischen Gemeinde war. Sie fühlte sich auf Anhieb wohl in
ihrer ausgedehnten Schwiegerfamilie, die sie warm empfing. Familien wie die
von Frido kannte Eva nur aus dem Fernsehen, vornehmlich von den Waltons. Leider
hatte Regine nach fünf Ferienaufenthalten in drei Jahren genug von Indien und
war fortan in Köln auf der Suche nach sich selbst. Wenn Eva wenigstens ihren
Vater gekannt hätte. Aber dessen Identität hatte Regine nie preisgegeben. »Wen
interessiert schon die bürgerliche Kleinfamilie«, wehrte sie ab, wenn Eva
wieder einmal bohrte.
»Mich«,
gestand Eva vorsichtig.
Aber
Regine hatte das nie hören wollen.
Es war zum
Haareraufen: Anstatt die faszinierenden Aus- und Rundblicke in eine unbekannte
Landschaft zu genießen, quälte sie sich mühsam Meter für Meter weiter und
dachte über ihre Mutter nach. Dabei hatte sie Regine längst hinter sich
gelassen. Eva bemühte sich jeden Tag, ihr Leben anders anzupacken als Regine.
Manchmal hatte Eva sich selbst im Verdacht, die Idee eines offenen,
gastfreundlichen Hauses, in das ihre Kinder angstfrei Freunde einladen konnten,
mehr zu schätzen als die reale Umsetzung. Das großzügige Haus am Parkrand, das
sie vor ein paar Jahren gekauft hatten, war immer voller Leben. Der Spiel- und
Bolzplatz der Grünanlage war Anziehungspunkt für alle Minderjährigen der
Umgebung. Ihr Haus wurde zur ersten Adresse, wenn die Spielfreunde mal mussten:
aufs Klo, was trinken, ein Pflaster, telefonieren, eine Fahrradpumpe, wieder
aufs Klo. Eva regelte alles. Vermutlich war sie die einzige Kölnerin, die ihre
Haustür offen stehen ließ, damit sie nicht bei jedem Klingeln laufen musste.
Laufen.
Ja. Laufen. Noch ein Schritt. Und noch einer. Wie weit war der Weg? Eva blickte
vom staubigen Untergrund auf und sah Licht am Ende des Tunnels. Der
schnurgerade Schotterpfad stieg langsam an. Eva war sich sicher: Von dort oben
konnte man das Kloster sehen. Selbst Mönche hatten heutzutage Telefon. Endlich
würde sie in Köln anrufen können. Eva fasste Mut. Die verbliebenen
Lebensgeister meldeten sich zur Stelle. Das letzte Stück schaffte sie auch
noch. Sie hatte die erste Etappe beinahe hinter sich. So schwer war Pilgern gar
nicht. Ein paar Schritte noch.
Als ihr
Blick vom bewachsenen Sattel in die Senke fiel, die genauso menschenleer wirkte
wie die Strecke, die hinter ihnen lag, erkannte Eva, dass sie auf ihrem
Pilgerweg bislang nur einen einzigen Fehler gemacht hatte. Das war, überhaupt
Ja zu dieser wahnwitzigen Unternehmung gesagt zu haben.
13
»Ist das
nicht großartig?«, kommentierte Kiki den faszinierenden Blick auf das
Mittelmeer und den Ferienort Narbonne Plage, die in ihrem Rücken lagen. Im
Gegensatz zu Eva, die bei jedem Schritt ächzte und stöhnte, bereitete ihr das
Laufen keinerlei Probleme. Es erwies sich als unschätzbarer Vorteil, dass sie
sich kein Auto leisten konnte. Studio Thalberg lag am Rande der Stadt in einem
alten Industriegelände. Die alten Ziegelhallen, in denen früher Fleisch in mundgerechte
Happen zerteilt wurde, boten inzwischen tonangebenden Medien- und
Designunternehmen eine Heimat. Kiki radelte die Strecke bei jedem Wetter. Zwölf
Kilometer hin. Zwölf Kilometer zurück. Von den Besuchen bei Kunden und in der
Produktion einmal ganz zu schweigen. Auch die absolvierte sie fast immer
radelnd. Kiki war gut vorbereitet für einen Pilgermarsch.
Die Wärme
streichelte ihre Haut. Es duftete nach Überfluss, nach Sommer, nach Pinien,
Thymian und Rosmarin. Ob Gott oder der Urknall für
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