Pelagia und der rote Hahn
den linken Augapfel heraus!
Pelagia sah die glänzende Kugel mit der kreisrunden Regenbogenhaut und dem schwarzen Punkt der Pupille auf der Handfläche liegen und wich mit einem erschrockenen Aufschrei zurück. Dann erst begriff sie, dass es sich um ein Glasauge handelte.
Der Schelm, mit dem Effekt zufrieden, lachte kalt. Dann sagte er mit einer höhnischen, knarrenden Stimme:
»Was für eine schnuckelige Mieze, und noch dazu eine Nonne. Es ist eine Sünde, sich über einen elenden Krüppel zu mokieren, Schwesterchen.«
Was für ein unangenehmer Mensch, dachte Pelagia, drehte sich um und trat eilends den Rückzug an. Wenn er nicht wollte, dass jemand sein Alleinsein störte, konnte er einem das auch auf angenehmere Weise zu verstehen geben.
Während sie das Oberdeck entlangging, focht sie einen inneren Kampf mit dem kleinen Teufel des Gekränktseins aus. Sie überwand den Gehörnten rasch und mühelos – das hatte sie während der Jahre im Kloster gelernt.
Jetzt sah sie vor sich, etwa dort, wo sich Mitrofanis Kabine befinden musste, etwas Weißes, Undeutliches, Schwankendes.
Als sie näher herankam, erkannte sie, dass es Vorhänge waren, die sich im Wind bewegten; allerdings nicht die der bischöflichen Kabine, sondern die der neben ihr gelegenen, in welcher der berüchtigte Prophet untergebracht war. Er hatte wohl das Fenster geöffnet und es dann vergessen. Vielleicht war er ausgegangen oder eingeschlafen.
Sie hätte schrecklich gern wenigstens einen klitzekleinen Blick in das Domizil des Scharlatans geworfen. Vielleicht könnte sie ja, im Vorbeigehen, ein ganz, ganz bisschen hineinschielen? Das konnte doch nicht so schlimm sein.
Sicherheitshalber sah sie sich um und überzeugte sich davon, dass keine Menschenseele in ihrer Nähe war, dann verlangsamte sie den Schritt, damit sie Zeit hatte, etwas ausgiebiger hineinzuspähen.
Bei Manuila brannte Licht – sehr praktisch.
Pelagia erreichte gemessenen Schrittes das Fenster, ließ die Pupillen in die rechten Augenwinkel wandern – und wäre um ein Haar über ihre eigenen Füße gestolpert.
Der Prophet war zu Hause und schien zu schlafen, aber nicht etwa wie ein normaler Mensch auf dem Sofa, sondern auf dem Fußboden, die Arme ausgebreitet wie ein Gekreuzigter. War das vielleicht so üblich bei denen, bei diesen »Findelkindern« ? Oder handelte es sich um irgendein seltsames Gelübde?
Die Nonne trat noch ein kleines Schrittchen näher ans Fenster und stellte sich auf die Zehenspitzen.
Das war ja sonderbar – auf dem Gesicht des Schlafenden, genau in den beiden Vertiefungen der Augen, lagen zwei glänzende weiße Eier. Pelagia schob den Bügel ihrer Brille höher auf die Nase und kniff die Augen zusammen, um diese Merkwürdigkeit besser betrachten zu können.
Gleich darauf hatten sich ihre Augen an das trübe Licht der Kabinenbeleuchtung gewöhnt, und jetzt sah sie ganz deutlich: Das waren gar keine Eier, das war etwas so Furchtbares, so Entsetzliches, dass Pelagias Mund sich ganz von selbst öffnete – mit der Absicht, den kurzen, einer Nonne würdigen Ausruf »O Gott!« hervorzustoßen, aber Stattdessen entfuhr ihm das beschämendste, allerbanalste Kreischen.
II
Wir lösen Rätsel
Wie man eine Leiche richtig fotografiert
»Die rechte Hand in Großaufnahme«, befahl Untersuchungsführer Dolinin dem Polizeifotografen und winkte gleichzeitig Pelagia mit dem Zeigefinger zu sich heran. »Sehen Sie sich das an, Schwester, das sind die Propheten von heute. Seine Seele schwebt schon im Äther, aber er greift immer noch nach dem Geld.«
Pelagia trat näher heran und bekreuzigte sich.
Der Anblick von Manuilas Leiche war unbeschreiblich abstoßend. Jemand hatte dem Möchtegern-Propheten den Hinterkopf mit einem so gewaltigen Schlage zerschmettert, dass ihm die Augäpfel aus den Höhlen gesprungen waren. Diese hatte die Nonne im Halbdunkel für Wachteleier gehalten.
Überall auf dem Kissen und sogar auf dem Teppich lagen Knochensplitter und Hirnpartikel. Für Pelagia war der Anblick der Leiche überdies sehr unangenehm, weil das Nachthemd des Toten hochgerutscht war und seinen blassen, behaarten Bauch und die Scham entblößt hatte, welche die Ordensschwester angestrengt mit ihrem Blick zu meiden suchte. In Manuilas verkrampfter Faust steckte ein abgerissenes Stück eines Hundertrubelscheins.
Ein greller Magnesiumblitz flammte auf. Aber der Untersuchungsführer war nicht zufrieden.
»Nein, nein, mein Guter, man muss von beiden Seiten des Apparates
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