Pelagia und der rote Hahn
Lied hab ich nicht vergessen, das Lied der Arbeitergenossenschaft«, gleich musste das »Uu-uch« kommen – aber es kam nicht. Der Chor verhaspelte sich, der Gesang kam ins Stolpern, und die Einmütigkeit löste sich in einem bunten Durcheinander auf.
Trotzdem setzte die Nonne ihren Weg fort, sie wollte herausfinden, was das wohl für ein fideles Jungvolk sein mochte.
Nein, das waren keine Studenten. Auf den ersten Blick hätte man sie zwar dafür halten können, Gesichter und Kleidung sahen durchaus danach aus, aber aus ihren Gesprächen schloss Pelagia, dass es sich um Auswanderer ins jüdische Palästina handelte.
»Du täuschst dich, Magellan!«, rief eine jugendliche Stimme. »Die arische Zivilisation strebt danach, die Welt zu verschönern, die jüdische hingegen will sie sittlicher machen, darin besteht der wesentliche Unterschied. Beides sind wichtige Ziele, aber sie sind schwer miteinander vereinbar, und deshalb müssen wir unseren Staat weit weg von Europa errichten. Wir werden von ihnen die Schönheit lernen und sie von uns die Moral. Bei uns wird es keine Ausbeutung geben, keine Unterdrückung des weiblichen Geschlechts durch das männliche, und die spießige kleinbürgerliche Familie auch nicht mehr. Wir werden der ganzen Welt ein Beispiel geben!«
Ach, wie interessant, dachte Pelagia und blieb in diskretem Abstand stehen. Das sind bestimmt Zionisten, über die jetzt so viel geschrieben und geredet wird. Was für sympathische junge Leute, und so zart, vor allem die jungen Damen.
Den jungen Mann mit dem Schifferbart, der gerade als Magellan angesprochen worden war, konnte man allerdings schwerlich zart nennen. Er war auch älter als die anderen, wohl um die fünfundzwanzig Jahre. In seinen ruhigen blauen Augen, die den Sprecher jetzt anblickten, lag ein nachsichtiges Lächeln.
»Die Hauptsache ist, dass wir in Palästina nicht verhungern, herumlamentieren oder anfangen, uns gegenseitig die Schädel einzuschlagen«, sagte er gelassen. »Über ethische Ideale können wir später nachdenken.«
Pelagia beugte sich zu einem netten Mädchen in kurzen Kinderhosen (die wohl auf britische Art »Shorts« genannt wurden) und fragte flüsternd:
»Sie gehören zu einer Kommune, stimmt’s?«
Das Mädchen hob ihr rundes Gesicht und lächelte:
»Oh, eine Nonne! Ja, wir sind Mitglieder der Kommune ›Megiddo Chadasch‹.«
»Und was bedeutet das?«, fragte die Nonne neugierig und ging in die Hocke.
»›Das Neue Megiddo‹. ›Megiddo‹ heißt auf Althebräisch ›Stadt des Glücks‹. Diese Stadt hat es wirklich gegeben, in der Jesreelebene. Sie wurde aber zerstört, entweder von den Assyrern oder von den Ägyptern, das weiß ich nicht mehr. Und wir bauen sie jetzt wieder auf, das Land haben wir schon von den Arabern gekauft.«
»Und das ist Ihr Anführer?«, fragte Pelagia und deutete auf den Bärtigen.
»Wer, Magellan? Nein, wir haben keinen Anführer, wir sind alle gleich. Er weiß einfach sehr viel, er war schon in Palästina und ist um die ganze Welt gesegelt – deshalb nennt man ihn auch Magellan. Er ist ein toller Kerl!« In der Stimme der jungen Dame mit den bloßen Beinen klang aufrichtige Bewunderung. »Mit ihm braucht man vor nichts Angst zu haben! Einmal, in Poltawa, da wollte ihn die »Leibgarde Christi‹ umbringen, weil er dort eine jüdische Bürgerwehr organisiert hatte. Aber er hat sich freigeschossen! Und jetzt sucht ihn die Polizei! Oj!« Das Fräulein merkte plötzlich, dass es sich verplappert hatte, und hielt sich erschrocken den Mund zu, aber Pelagia tat, als hätte sie die Bemerkung über die Polizei gar nicht gehört oder nicht verstanden; Nonnen sind ja sowieso ein bisschen einfältig und nicht ganz von dieser Welt.
Das Mädchen hatte sich auch gleich wieder beruhigt und zwitscherte weiter, als sei nichts gewesen.
»Die Idee mit der Stadt des Glücks stammt von Magellan, Er hat uns auch alle zusammengebracht, und Geld hat er aufgetrieben, dreizehntausend, stellen Sie sich das mal vor! Das hat er schon nach Jaffa überwiesen, auf die Bank, und nur ein wenig für die Reise behalten – acht Kopeken pro Kopf und Tag.«
»Acht Kopeken? Das ist aber sehr wenig.«
»Ja, schon, aber Kolosseum« – das Mädchen deutete auf einen unvorstellbar mageren und krummrückigen jungen Mann – »hat ausgerechnet, dass das genau der Betrag ist, den ein Ackerbauer zur Zeit König Salomons zum Leben hatte; natürlich in heutiges Geld umgerechnet. Kolosseum ist nämlich Student an der
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