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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Sinnesorgane einsetzen konnte: den Geruchssinn und das Sehen. Letzteres nützte ihr allerdings nicht viel – außer undurchdringlicher Finsternis konnten die Augen der Eingekerkerten nichts erkennen. Was den Geruchssinn anging, so roch es in ihrem Gefängnis nach Brackwasser, altem Holz und Fisch. Vielleicht noch nach rostigem Eisen. Im Großen und Ganzen brachte das alles keine Klarheit.
    Doch nach etwa zehn Minuten, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte sich heraus, dass die Finsternis nicht gar so undurchdringlich war. In der Decke gab es schmale, lange Ritzen, durch die Licht sickerte – wenn auch spärlich, nur wenig besser als die Schwärze, aber wenigstens ein bisschen Licht. Dank dieser düster-grauen Beleuchtung begriff Polina Andrejewna mit der Zeit, dass sie in einem engen, mit Brettern verkleideten Raum lag – allem Anschein nach im Kielraum eines kleinen Fischkutters (wie sonst war der durchdringende Geruch nach Fisch zu erklären?).
    Der Kahn schien vollkommen altersschwach zu sein, nicht nur an der Decke drang das Licht durch die Spalten, sondern auch oben an den Bordwänden. Bei hohem Wellengang würde dieser Panzerkreuzer gewiss Wasser schlucken oder vielleicht sogar komplett untergehen.
    Doch die Navigationsaussichten des gebrechlichen Schiffs machten Frau Lissizyna bedeutend weniger Sorgen als ihr eigenes Schicksal. Denn die ohnehin schon schlimme Angelegenheit nahm unterdessen eine unerwartete und äußerst unangenehme Wendung.
    Das Fiepen, das auch vorher schon zu hören gewesen war, verstärkte sich, und ein kleiner Schatten huschte über das Sackleinen. Dann ein zweiter, ein dritter.
    Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen beobachtete die Gefangene, wie sich eine Mäuseschar langsam auf ihr Kinn zubewegte.
    Die Bewohner des Kielraums hatten sich anfangs wahrscheinlich versteckt, jetzt aber beschlossen zu erkunden, was für ein gigantischer Gegenstand da so plötzlich in ihrem Mäuseuniversum aufgetaucht war.
    Polina Andrejewna war keineswegs feige, doch die kleinen, flinken, raschelnden Bewohner der finsteren Unterwelt riefen bei ihr immer Widerwillen und ein unerklärliches, mysteriöses Entsetzen hervor. Wären die Fesseln nicht gewesen, hätte sie dieses widerliche Loch mit einem Kreischen blitzschnell verlassen. So aber hatte sie nur zwei Möglichkeiten: entweder beschämend und vor allem sinnlos zu brüllen und den Kopf hin und her zu werfen, oder aber den Verstand zu Hilfe zu rufen.
    Denk doch nur, Mäuse, sagte sich Frau Lissizyna. Vollkommen harmlose Tierchen. Sie schnuppern an dir und verschwinden wieder.
    Da fielen ihr die Ratten ein, die den Stadthauptmann beschnuppert hatten, und Polina Andrejewna tröstete sich zusätzlich mit der Überlegung, dass Mäuse keine Ratten sind, nicht über Menschen herfallen und nicht beißen. Eigentlich war es sogar lustig. Sie haben ebenfalls schreckliche Angst, da – nur mühsam krabbeln sie hoch, wie die Liliputaner bei Gulliver.
    Ein kalter Schweißtropfen rollte ihr über die Schläfe. Die mutigste Maus war ganz nah herangekommen. Polina Andrejewnas Augen hatten sich inzwischen so an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie die Besucherin in allen Details erkennen konnte, bis zu ihrem kurzen, abgenagten Schwanz. Die widerliche Kreatur kitzelte mit ihren Barthaaren das Kinn der Rationalistin, und der Verstand kapitulierte unverzüglich.
    Die Gefangene bäumte sich mit dem ganzen Körper auf, stieß einen lauten Schrei aus und wälzte sich zurück in die Mitte des Kielraums. Das befreite sie von den Mäusen, doch dafür hatte sie sich jetzt wieder in das Sackleinen eingewickelt. Dann schon besser so, sagte sich die Lissizyna, während sie auf das wilde Klopfen ihres Herzens lauschte.
    Doch es waren keine fünf Minuten vergangen, als auf dem Sackleinen, direkt über ihrem Gesicht, erneut hartnäckige kleine Pfoten kratzten. Polina Andrejewna stellte sich vor, was geschehen würde, wenn die Maus mit dem kurzen Schwanz sich in den Sack zwängen würde, und wälzte sich schnell wieder zurück zur Wand.
    Sie lag da und atmtete durch die Nase. Sie wartete.
    Und bald wiederholte sich das Ganze: das Fiepen, der vorsichtige Marsch über ihre Brust, das Herumwälzen auf dem Boden.
    Nach einiger Zeit wurde es zur Routine: Die Gefangene warf die ungebetenen Gäste ab, indem sie sich in dem Sackleinen hin und her rollte. Die Mäuse fanden anscheinend Geschmack an diesem interessanten Spiel, und mit der Zeit wurde der Abstand zwischen

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