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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Vielleicht hätte sie von Anfang an schreien sollen, anstatt die Fäuste zu schwingen.
    Sie riss den Mund auf, so weit es ging, und wollte um Hilfe schreien – vielleicht war eine Patrouille der Friedenswächter auf der Uferstraße unterwegs, oder einfach späte Passanten – , doch eine unsichtbare Hand stopfte ihr einen rauen, widerlich sauren Lappen zwischen die Zähne und band, damit sie den Knebel nicht ausspucken konnte, noch ein Tuch darüber.
    Dann hob der Kraftprotz die hilflose Gefangene mit Leichtigkeit hoch, indem er sie beim Nacken und bei den gefesselten Beinen packte wie ein Schaf, und warf sie auf ein am Boden ausgebreitetes Stück Sackleinwand, das Polina Andrejewna erst jetzt bemerkte. Der gut vorbereitete Übeltäter rollte den Körper über den Boden und wickelte ihn dabei gleichzeitig in das Sackleinen ein, sodass Frau Lissizyna sich in Sekundenschnelle aus einer unbekleideten Dame in einen formlosen Ballen verwandelte.
    Das dumpf brüllende, sich windende Bündel wurde in die Luft gehoben, über eine Schulter, breit wie ein Pferderücken, geworfen, und Polina Andrejewna spürte, dass sie davongetragen wurde. Im Takt der weit ausholenden, gleichmäßigen Schritte wippend, versuchte sie zunächst noch, um sich zu schlagen und Protestlaute von sich zu geben, doch in dem engen Sack konnte sie sich fast gar nicht bewegen, und ihr Stöhnen, durch den Knebel und das grobe Sackleinen gedämpft, konnte wohl kaum jemand hören.
    Bald wurde ihr schlecht; das Blut schoss ihr in den herabhängenden Kopf, das Schaukeln verursachte ihr Übelkeit, und vor allem ließ das verdammte Sackleinen, das völlig verstaubt war, sie nicht atmen. Polina Andrejewna musste niesen, doch es ging nicht – versuchen Sie das mal mit einem Knebel im Mund!
    Am schlimmsten aber war, dass der Räuber anscheinend beabsichtigte, seinen Fang unglaublich weit weg zu schaffen, bis ans Ende der Welt. Er ging und ging unaufhörlich weiter, ohne einmal zu verschnaufen, ja ohne anzuhalten, und die quälende Reise nahm kein Ende. Der Gefangenen, der allmählich die Sinne schwanden, kam es vor, als liege die Insel Kanaan längst hinter ihnen (dort gab es nirgends solche Weiten), und ein Riese marschiere mit ihr über die Wasser des Blauen Sees.
    Als Frau Lissizyna vor Übelkeit und Atemnot bereits kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren, klangen die Schritte des geheimnisvollen Bösewichts plötzlich nicht mehr dumpf, sondern knarrend, und dem Schwanken des Gehens gesellte sich ein anderes Schwanken hinzu, als woge die Erde unter ihnen. Es ist doch wohl nicht wirklich Wasser, schoss es ihr durch die schwindenden Sinne. Aber woher kam dann das Knarren?
    Hier fand die beschwerliche Wanderung schließlich ein Ende. Das Bündel wurde ohne viel Federlesens auf etwas Hartes geworfen, nicht auf die Erde, sondern eher auf einen Bretterboden. Ein Knirschen ertönte, das Quietschen verrosteter Türangeln. Dann wurde die Gefangene wieder hochgehoben, aber nicht mehr horizontal, sondern vertikal, zudem mit dem Kopf nach unten, und in ein Loch oder eine Grube hinuntergelassen – an einen Ort jedenfalls, der viel tiefer lag als der Boden. Polina Andrejewna stieß mit dem Scheitel gegen etwas Festes, dann wurde der Sack fallen gelassen, und er schlug polternd auf etwas Flachem auf. Von oben quietschte und knirschte es wieder, eine Tür schlug zu. Mit einem dumpfen Dröhnen entfernten sich Schritte, als ginge jemand über die Decke, und es wurde still.
    Die Lissizyna lag eine Weile da und lauschte. Irgendwo in der Nähe plätscherte Wasser, und zwar sehr viel Wasser. Was gab es sonst noch zu sagen über ihr Gefängnis (nach dem Quietschen der Tür zu urteilen hatte man sie irgendwo eingesperrt)? Vermutlich lag es nicht auf dem Festland, sondern auf einem Schiff, und das Wasser plätscherte nicht einfach so – es schlug an die Bordwand oder vielleicht gegen den Anleger. Als sie ihr Gehör noch mehr anstrengte, vernahm Polina Andrejewna ein leises Fiepen, das ihr aus irgendeinem Grunde ganz und gar nicht gefiel.
    Nachdem sie erste Eindrücke gesammelt hatte, ging sie ans Werk.
    Zuallererst musste sie sich von dem widerlichen Sackleinen befreien. Die Lissizyna wälzte sich vom Rücken auf die Seite, dann auf den Bauch und wieder auf den Rücken, bis sie gegen eine Wand stieß. Es gelang ihr nicht, sich vollständig zu befreien, sie war immer noch fest eingewickelt, aber der obere Teil des Sackleinens hatte sich gelöst, sodass sie nun zwei weitere

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