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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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vor der Geburt wieder da. Nicht umsonst heißt es im Volksmund: Kaum läuft ein Jud durchs Türchen, klappt alles wie am Schnürchen.«
    Doch als er in der Kutsche nach Hause fuhr, verging sein Schneid, ihm wurde bang ums Herz, und je näher er dem Hause kam, desto schlimmer wurde es. Wie sollte er es seiner Frau sagen? Wie sollte er ihr in die Augen sehen?
    Er sah ihr erst gar nicht in die Augen. Noch im Vorzimmer küsste er sie auf die Wange, drückte sie an sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Maschenka, mein Engel, es gibt da einen Fall. . . Eine außerordentlich wichtige Reise . . . Nur für eine Woche, ich kann das unmöglich ablehnen. Ich beeile mich, so gut es geht, mein großes Ehren. . .«
    Unverzüglich wurde er aus seiner Umarmung zurückgestoßen und mit harten, aber gerechten Worten beschimpft. Er übernachtete im Kabinett, auf dem harten Diwan, aber am schlimmsten war es, dass er sich bei der Abreise am frühen Morgen nicht im Guten von seiner Frau verabschieden konnte. Die Kinder küsste und segnete er, alle zwölf Seelen, aber es gelang ihm nicht, sich mit der unbeugsamen Mascha zu versöhnen.
    In der Schublade seines Schreibtischs hinterließ er Verfügungen über seinen Besitz – für alle Fälle, als verantwortungsvoller Mensch.
    Ach, Mascha, Mascha, werden wir uns Wiedersehen?
    ***
    Reue – das war das Gefühl, von dem der stellvertretende Staatsanwalt auf dem Weg zum Archipel von Sineosjorsk beherrscht wurde. Worauf hatte er sich da, einer flüchtigen Anwandlung folgend, eingelassen? Und wofür?
    Wofür, oder besser gesagt: für wen, das war klar – für seinen geliebten Mentor und Wohltäter, aber auch, um die Wahrheit herauszufinden, wozu ein Diener der Jurisprudenz verpflichtet ist. Aber da war noch die moralische, ja philosophische Frage: Welches ist die erste Pflicht des Menschen – die Gesellschaft oder die Liebe? In der einen Waagschale liegen Bürgersinn, berufliche Reputation, männliche Ehre und Selbstachtung, in der anderen dreizehn Seelen – eine weibliche und zwölf kindliche (und bald, so Gott will, würde eine weitere, ganz kleine, hinzukommen). Wenn es nur um ihn selbst ginge, wäre es halb so schlimm, doch diese dreizehn Seelen, die ohne ihn verloren wären und die ihm, um die Wahrheit zu sagen, viel teurer waren als alle die Millionen, die die Erde bevölkern, was konnten sie dafür? Man mochte es drehen und wenden, wie man wollte, Matwej Benzionowitsch würde so und so als Verräter dastehen. Würde er der Familie den Vorrang geben und sich vor der Aufgabe drücken, dann würde er seine Prinzipien und die Gesellschaft verraten. Würde er hingegen ehrlich der Gesellschaft dienen, wäre er ein Schuft und ein Judas vor Mascha und den Kindern.
    Bei weitem nicht zum ersten Mal bedauerte Matwej Benzionowitsch, den Weg eines Gesetzeshüters eingeschlagen zu haben, der für einen anständigen Menschen so beschwerlich ist. Wäre er Rechtsanwalt oder juristischer Konsultant geworden, befände er sich gewiss nicht in dieser moralischen Zwickmühle.
    Aber nein, sagte sich Berditschewski darauf, ebenfalls nicht zum ersten Mal. Jeder Mensch, selbst derjenige, der nicht im Staatsdienst steht und ein privates Leben führt, erlebt unausweichlich Interessenkonflikte, bei denen er wählen muss, was er opfern will. Diese Erfahrung hält Gott für jeden Lebenden bereit, damit er sich erkennen und sein Kreuz der Schulter anpassen kann – wenn nicht das eine, dann würde er das andere tragen können.
    Seine Seele war voll Unrat, auch ohne die moralischen Qualen wegen der Entscheidung, die er getroffen hatte. Es war so, dass Matwej Benzionowitsch die Eigenschaften, die er in seiner Seele entdeckte, ganz und gar nicht gefielen. Anstatt sich beflügelt und beseelt von dem Verlangen, die Wahrheit zu finden, in die Untersuchung zu stürzen, empfand der stellvertretende Staatsanwalt ein ganz anderes Gefühl, das man vornehm als Kleinmut oder einfacher ausgedrückt als entsetzliche Feigheit bezeichnen konnte.
    Welcher Leidenschaft, welcher Alpträume hatte es bedurft, damit ein höhnischer Nihilist den Verstand verlor und ein rauer, unerschrockener Polizeioffizier sein Herz in Stücke schoss? Was für ein Moloch hatte sich dort eingenistet, auf dieser verfluchten Insel? Und war ein gewöhnlicher, keineswegs besonders heldenhafter Mensch imstande, sich auf einen Zweikampf mit einer solchen Schreckgestalt einzulassen?
    Als gebildeter, fortschrittlicher Mensch glaubte Matwej Benzionowitsch natürlich

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