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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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»Und zweitens bin ich ebenso rechtgläubig wie Sie.«
    Matwej Benzionowitsch trug diese Worte so würdevoll und ruhig vor (obgleich er innerlich natürlich zitterte und brodelte), dass er selbst seine Freude daran hatte.
    Aber kann man einen verbissenen Judophoben mit Würde packen?
    »Unseren russischen Glauben kann nur ein Russe durch und durch verstehen und annehmen«, stieß Vater Witali mit verächtlich gekräuselten Lippen hervor. »Und besonders für jüdischen Hochmut und Egoismus ist der orthodoxe Glaube weder mit dem Verstand noch mit dem Herzen zu erfassen. Fort mit euch, nehmt eure Krallen von den russischen Heiligtümern! Und was eure Taufe angeht, so heißt es im Volksmund: Ein getaufter Jud ist ein vergebener Dieb.«
    Mit diesen Worten drehte der Archimandrit dem Staatsanwalt den Rücken zu, stapfte mit schmatzendem Geräusch durch den Dreck und verschwand im Stall – hoch gewachsen, schwarz, aufrecht und gerade wie eine Hopfenstange. Berditschewski verließ kochend vor Wut das Kloster.
    Da das Gespräch so schnell vorbeigegangen war – es hatte keine zehn Minuten gedauert – , blieb bis zu seinem Treffen mit Doktor Korowin noch viel Zeit. Um sie nicht nutzlos zu vergeuden und sich zugleich bei einem Gang an der frischen Luft zu beruhigen, beschloss der stellvertretende Staatsanwalt, durch die Stadt zu spazieren und sich mit ihrer Topographie, ihren Gewohnheiten und Besonderheiten bekannt zu machen.
    Es war erstaunlich: Dieselben Straßen, die auf Matwej Benzionowitsch beim ersten Augenschein einen sauberen, gepflegten und ordentlichen Eindruck gemacht hatten, schienen ihm jetzt unheimlich, ja unheilvoll. Der Blick des Ankömmlings ruhte nun mehr und mehr auf den unfreundlich zusammengepressten Lippen der Pilger, auf den im Überfluss vorhandenen Kirchen, Kirchlein und kleinen Kapellen, auf der ethnischen Einheitlichkeit der Menschen, die ihm begegneten: Niemand, der eine dunkle Haut, schwarze Augen und eine Hakennase gehabt oder wenigstens geschielt hätte, sie alle waren Großrussen, blond, mit grauen Augen und Stupsnasen.
    Niemals zuvor hatte Berditschewski eine so heftige, ausweglose Einsamkeit verspürt wie in diesem Paradies der Rechtgläubigen. War es denn ein Paradies? Ein Dutzend hoch gewachsener Mönche mit Knüppeln am Gürtel kam an ihm vorbeimarschiert – ein schöner Garten Eden unter der Knute dieses Reaktionärs Vater Witali, der alles Andersdenkende bekämpfte. In den Buchhandlungen wurde ausschließlich geistliche Lektüre verkauft, an Zeitungen gab es nur den »Kirchenboten«, die »Fackel der Rechtgläubigkeit« und den »Bürger« des Fürsten Meschtscherski. Es gab weder ein Theater noch ein Blasorchester im Park oder, Gott behüte, einen Tanzsaal. Dafür gab es Essen in Hülle und Fülle. Essen und beten – das ist euer ganzes Paradies, wütete Matwej Benzionowitsch in Gedanken.
    Als sich aber sein Gefühl der Beleidigung und seine Wut auf den Archimandriten ein wenig gelegt hatten, überlegte Berditschewski getreu der Maxime der Intelligenzija audiatur et altera pars, dass Witali im Grunde genommen nicht einmal so Unrecht hatte, was die Beurteilung seiner, Berditschewskis, Person anging. Ja, er war hochmütig. Ja, er war ein Skeptiker, der nicht einfach naiv und offenherzig glauben konnte. Und wenn er freimütig und sich selbst gegenüber vollkommen aufrichtig war, dann beruhte seine ganze Religiosität nicht auf der Liebe zu Jesus, den Matwej Benzionowitsch niemals mit eigenen Augen gesehen hatte, sondern auf der Liebe zu Bischof Mitrofani. Das heißt, angenommen, Berditschewskis geistlicher Vater wäre kein orthodoxer Bischof, sondern ein weiser Scheich oder ein buddhistischer Meister, dann würde der Kollegienrat jetzt mit einem Turban oder mit einem kegelförmigen Strohhut herumlaufen. Bloß hätten Sie damit im Russischen Reich keine Karriere machen können, gnädiger Herr, setzte Matwej Benzionowitsch für sich selbst noch eins drauf und versank endgültig in Selbsterniedrigung.
    Nun wurde ihm erst recht mulmig, weil sich der irdischen Einsamkeit – die eine zeitweilige war und sich lediglich auf die Insel Kanaan beschränkte – noch die metaphysische hinzugesellte. Herr, vergib mir Kleingläubigkeit und Zweifel, betete der verstörte stellvertretende Staatsanwalt, und er blickte sich nach allen Seiten um, ob sich nicht vielleicht eine Kirche in der Nähe befände, um vor dem Antlitz des Erlösers so schnell wie möglich um Vergebung zu bitten.
    Es konnte gar nicht

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