Pelagia und der schwarze Moench
ließ er sich allmählich mitreißen.
»Meine Patienten sind selbstverständlich nicht normal, doch das bedeutet lediglich, dass sie von einer von der Gesellschaft anerkannten Durchschnittsnorm abweichen, das heißt, sie sind ungewöhnlicher, exotischer, wunderlicher als › normale‹ Menschen. Ich bin prinzipiell gegen den Begriff › Norm‹ als Vergleichsterminus im Bereich der menschlichen Psyche. Jeder von uns hat seine eigene Norm. Und die Pflicht des Individuums vor sich selbst besteht darin, über diese Norm hinauszuwachsen.«
An dieser Stelle nickte Frau Lissizyna, als hätte der Doktor eine These verkündet, die ihr schon in den Sinn gekommen war und der sie vollkommen zustimmte.
»Der Mensch ist ebendeshalb wertvoll, er ist deshalb interessant und, wenn Sie wollen, auch deshalb groß«, fuhr Korowin fort, »weil er sich zum Besseren verändern kann. Immer. In jedem Alter, nach jedem Fehler, jedem moralischen Versagen. In unserer Psyche ist der Mechanismus der Selbstvervollkommnung angelegt. Wenn dieser Mechanismus nicht benutzt wird, rostet er, und dann degradiert der Mensch, dann sinkt er unter die eigene Norm hinab. Ein anderer Eckstein meiner Theorie lautet: Jeder Mangel, jedes Versagen einer Persönlichkeit ist gleichzeitig ein Vorteil, eine Erhabenheit – man muss diesen Punkt des seelischen Reliefs nur um hundertachtzig Grad drehen. Und da haben Sie mein drittes grundlegendes Prinzip: Jedem Leidenden kann geholfen werden, und jeden Unverstandenen kann man verstehen. Wenn man ihn verstanden hat, kann man die Arbeit mit ihm beginnen und einen Schwachen stark, einen Benachteiligten wertvoll, einen Unglücklichen glücklich machen. Ich stehe nicht höher als meine Patienten, liebe Polina Andrejewna, ich bin nicht klüger oder besser als sie – höchstens reicher, obwohl auch äußerst wohlhabende Menschen darunter sind.«
»Sie glauben, dass man jedem Menschen helfen kann?« Die Zuhörerin, sichtlich bewegt von den Worten des Doktors, schlug die Hände zusammen. »Aber es gibt doch Abweichungen, die sehr schwer zu heilen sind! Etwa schwere Trunksucht oder, schlimmer noch, Opiumsucht!«
»Gerade das ist Unsinn«, lächelte der Doktor herablassend. »Damit habe ich meine Experimente damals begonnen. Ich besitze eine eigene kleine Insel im Indischen Ozean, weitab von allen Seestraßen gelegen. Dort habe ich hoffnungslose Alkoholiker und Drogenabhängige untergebracht. Auf der ganzen Insel gibt es keinerlei berauschende Getränke, für kein Geld der Welt. Dort ist übrigens gar kein Geld im Umlauf. Einmal in drei Monaten kommt ein Schoner von den Malediven und bringt alles Notwendige.«
»Laufen sie nicht weg?«
»Wer zurückkehren will, kann jederzeit mit dem Schoner die Insel verlassen. Niemand wird mit Gewalt dort festgehalten. Ich meine, man darf dem Menschen die freie Wahl nicht nehmen. Wenn er sich zugrunde richten will, dann ist das sein gutes Recht. Die wahre Schwierigkeit stellen also nicht die Sklaven der Flasche oder der Wasserpfeife dar, sondern Menschen, zu deren Anomalie man einfach nicht den passenden Schlüssel findet. Mit solchen Patienten arbeite ich hier, in Kanaan. Manchmal mit Erfolg, manchmal leider ohne.«
Korowin seufzte.
»Im Cottage Nummer siebzehn wohnt derzeit ein Telegrafist der Eisenbahn, der behauptet, die Bewohner eines anderen Planeten hätten ihn entführt und mehrere Jahre bei sich behalten, wobei ihre Jahre bedeutend länger seien als die auf der Erde, weil ihre Sonne viel größer sei als unsere.«
»Ziemlich scharfsinnig beobachtet für einen einfachen Telegrafisten«, bemerkte Polina Andrejewna.
»Das ist noch gar nichts! Sie sollten mal hören, wie er vom Wufer (so heißt der Planet) erzählt – besser als Swift und Jules Verne zusammen! Ganz lebendig, in allen Details! Und die technischen Einzelheiten – da vergisst man die Zeit beim Zuhören. Und die Sprache! Er gibt mir Unterricht in der Wufer-Sprache. Ich habe eigens angefangen, ein Glossar anzulegen, um ihn zu ertappen. Was glauben Sie? Er hat sich kein einziges Mal vertan, er weiß alle Wörter noch! Die Grammatik ist erstaunlich logisch, viel konsequenter als in allen mir bekannten Sprachen dieser Erde!«
Die Lissizyna faltete die Hände, so interessant war die Erzählung über den anderen Planeten.
»Und wie erklärt er seine Rückkehr?«
»Er erklärt, man hätte ihm gleich gesagt, dass man ihn nur für eine gewisse Zeit mitnehmen, ihn beherbergen und anschließend heil und unversehrt wieder
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