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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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dieses Porträt das letzte sein würde. Er hat niemanden ins Zimmer gelassen, alles selbst gemacht: dem Mädchen zu trinken gegeben, ihr die Medikamente verabreicht und das Essen gebracht, und dann wieder zum Pinsel gegriffen. Als das Mädchen im Todeskampf lag, verfiel Jessichin in Raserei – doch nicht vor Schmerz, sondern vor Begeisterung, wegen des wunderbaren Wechselspiels von Licht und Schatten auf dem schmerzverzerrten, ausgemergelten Gesichtchen. Die Leute, die sich im Nebenzimmer versammelt hatten, vernahmen das jämmerliche Stöhnen hinter der verschlossenen Tür. Das sterbende Mädchen weinte, bat um Wasser, doch vergebens – Jessichin konnte sich nicht von dem Bild losreißen. Als sie schließlich die Tür einbrachen, war das Mädchen schon gestorben, aber Jessichin sah sie nicht einmal an, weil er immerzu etwas auf der Leinwand ausbesserte. Die Tochter brachte man zum Friedhof, den Vater ins Irrenhaus. Und das Bild, wenn auch nicht vollendet, wurde auf dem Pariser Salon unter dem Titel › La mort triomphante‹ ausgestellt und erhielt dort den ersten Preis.«
    »Der Verstand des Vaters konnte den Schmerz nicht ertragen und hat sich einen Schutzschild in Form von Arbeit errichtet.« So legte die gutherzige Polina Andrejewna die Geschichte aus.
    »Meinen Sie?« Donat Sawwitsch nahm die Brille ab, putzte sie und setzte sie wieder auf. »Ich hingegen ziehe, wenn ich Jessichins Fall betrachte, eher den Schluss, dass ein echtes, bedeutendes Genie nicht zu voller Reife gelangen kann, wenn nicht einige Bereiche der Seele absterben. Indem Konon Petrowitsch mit der Liebe zu seiner Tochter auch den Rest von Menschlichkeit in sich vernichtete, hat er sich für die Kunst befreit. Das, was er in seinem Cottage erschafft, wird einmal die bedeutendsten Gemäldegalerien der Welt schmücken. Und wer von den dankbaren Nachfahren wird dann an das weinende Mädchen denken, das sterben musste, ohne dass ihr Durst noch einmal gelöscht wurde? Ich habe keinen Zweifel, dass sich künftige Generationen an meine Heilanstalt, an mich selbst, ja, auch an die Insel Kanaan nur deshalb erinnern werden, weil hier ein Genie gelebt und gearbeitet hat. Wollen Sie übrigens Jessichin und seine Bilder einmal sehen?«
    Frau Lissizyna antwortete nicht gleich und nicht sehr überzeugt:
    »Ja . . . Vielleicht schon.«
    Sie überlegte noch einmal, nickte und sagte dann entschlossener:
    »Unbedingt. Bringen Sie mich hin.«
    Warm, wärmer, heiß!
    Vor ihrem Besuch bei Doktor Korowin war die Lissizyna noch einmal im Hotel gewesen, wo sie ihren leichten Umhang gegen einen langen schwarzen Mantel mit Kapuze eingetauscht hatte, weil sie offenbar damit rechnete, dass es sich abends abkühlen würde. Aber die – wenn auch fahle – Sonne hatte tagsüber die Luft angenehm erwärmen können, und für einen Spaziergang auf dem Klinikgelände war es nicht nötig, den Mantel anzuziehen. Polina Andrejewna begnügte sich damit, einen Schal um die Schultern zu legen, und Korowin blieb, wie er war, in Weste und Gehrock.
    Das Cottage Nummer drei befand sich ganz am Rand der mit Kiefern bewachsenen Anhöhe, die Korowin vom Kloster gemietet hatte. Das kleine Haus mit den weiß verputzten Wänden schien Polina Andrejewna nicht weiter bemerkenswert, besonders im Vergleich mit den übrigen Cottages, von denen viele durch ihr bizarres Aussehen auffielen.
    »Bei diesem Haus liegt der ganze Reiz im Innern«, erklärte Donat Sawwitsch. »Jessichin kümmert es nicht, wie seine Behausung von außen aussieht. Außerdem sagte ich ja bereits – er verlässt das Haus nie.«
    Sie betraten das Haus ohne anzuklopfen. Erst nachher begriff Polina, warum: Der Künstler hätte sie ohnehin nicht gehört, und wenn er sie gehört hätte, hätte er keine Antwort gegeben.
    Polina sah, dass das Cottage aus einem einzigen Raum mit fünf großen Fenstern bestand, eines in jeder Wand und ein weiteres in der Decke. In diesem Studio gab es keinerlei Möbel. Wahrscheinlich aß und schlief Jessichin direkt auf dem Boden.
    Im Übrigen kam die Besucherin nicht dazu, den Raum einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, so verblüfft war sie von den Wänden und der Decke dieser wunderlichen Behausung.
    Alle Flächen mit Ausnahme des Bodens und der Fenster waren mit Leinwand bespannt, die fast vollständig mit Ölfarben bemalt war. Die Decke stellte den Nachthimmel dar, so genau und überzeugend, dass man, wäre nicht die quadratische Fensterscheibe gewesen, durch die vom Sonnenuntergang zart

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