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Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Launen des Gedächtnisses erzählen?«, fragte sie, noch immer lachend. »Auch etwas Komisches?«
    »Ganz im Gegenteil. Etwas sehr Trauriges. Ich habe eine Patientin, die jeden Morgen, wenn sie erwacht, noch einmal den schrecklichsten Tag ihres Lebens durchlebt, als sie die Nachricht vom Tode ihres Mannes erhielt. Damals fing sie an zu schreien, dann fiel sie in Ohnmacht und lag die ganze Nacht bewusstlos da. Seither scheint ihr jeden Morgen, sie sei aus der Ohnmacht zu sich gekommen und habe die schreckliche Nachricht erst am Abend zuvor erhalten. Für sie ist gleichsam die Zeit stehen geblieben, der Schmerz über den Verlust lässt überhaupt nicht nach. Sie öffnet morgens die Augen – ein Schrei, Tränen, Hysterie . . . Ihr ist eigens ein Arzt zur Seite gestellt, der sie beruhigt und ihr erklärt, dass das Unglück lange her ist, sieben Jahre. Zu Anfang glaubt sie ihm natürlich nicht. Mit Beweisen und Erklärungen vergeht die erste Hälfte des Tages. Um die Mittagsstunde herum lässt die Kranke sich überzeugen, sie beruhigt sich ein wenig und fragt, was in diesen sieben Jahren passiert sei. Sie interessiert sich lebhaft für alles. Gegen Abend ist sie dann ganz ruhig und friedlich. Sie legt sich mit einem Lächeln zu Bett und schläft ruhig wie ein kleines Kind. Und wenn sie morgens aufwacht, geht alles von vorne los: der Schmerz, das Schluchzen, die Suizidversuche. Ich kämpfe dagegen an, aber bislang kann ich nichts ausrichten. Der Mechanismus des psychischen Schocks ist noch zu wenig erforscht, man muss nach dem Gefühl vorgehen. Es ist sehr schwer, bei dieser Patientin zu sein, weil sich tagtäglich das Gleiche wiederholt. Länger als zwei oder drei Wochen halten die Ärzte das nicht aus, dann müssen sie ausgetauscht werden . . .«
    Als er sah, dass seiner Zuhörerin die Tränen in den Augen standen, sagte Donat Sawwitsch munter:
    »Na, na! Nicht alle meine Patienten sind unglücklich. Es gibt auch einen, der ist vollkommen glücklich. Sehen Sie das Bild?«
    Der Doktor wies auf die bereits erwähnte Krake, die Polina Andrejewna das ganze Gespräch hindurch immer wieder betrachtet hatte – es war etwas Besonderes an diesem Gemälde, das einen den Blick nicht abwenden ließ.
    »Ein Werk von Konon Jessichin. Haben Sie schon mal von ihm gehört?«
    »Nein. Er hat ein bemerkenswertes Talent!«
    »Jessichin ist ein Genie«, nickte Korowin. »Ein echtes, unverfälschtes Genie. Wissen Sie, er gehört zu den Künstlern, die malen, als habe vor ihnen keine Malerei existiert, kein Raffael, kein Goya, kein Cézanne. Überhaupt niemand – bis Konon Jessichin geboren wurde, der erste Künstler der Erde, und etwas schuf, das die Leinwand unter seinem Pinsel lebendig werden lässt.«
    »Jessichin? Nein, kenne ich nicht.«
    »Natürlich nicht. Kaum jemand weiß von Jessichin – nur wenige Kunstkenner, und selbst die sind überzeugt, er sei seit langem verstorben. Denn Konon Petrowitsch ist völlig umnachtet, seit mehr als fünf Jahren hat er das Cottage Nummer drei nicht verlassen, und vorher hat er zehn Jahre in einem gewöhnlichen Irrenhaus gesessen, wo ihm die idiotischen Arzte im Bestreben, ihn wieder › normal‹ werden zu lassen, weder Farben noch Stifte gegeben haben.«
    »Worin besteht seine Geisteskrankheit?«, Polina Andrejewna blickte immer noch auf die Krake, die sie mit ihrem seltsamen kalten Blick immer mehr in ihren Bann schlug.
    »Wissen Sie noch, was bei Puschkin steht? Über die Unvereinbarkeit von Genie und Verbrechen? Jessichins Beispiel zeigt, dass sie hervorragend vereinbar sind. Konon Petrowitsch ist ein uneinsichtiger, echter Verbrecher. Die Faszination für sein Werk hat alle übrigen Gefühle in seiner Seele ausgelöscht. Nicht mit einem Mal, sondern ganz allmählich. Das einzige Wesen, das Jessichin geliebt hat, leidenschaftlich geliebt hat, war seine Tochter, eine stilles, prachtvolles Mädchen, das früh die Mutter verloren hat und allmählich an Schwindsucht zugrunde gegangen ist. Monatelang ist er praktisch nicht von ihrem Bett gewichen, ging höchstens für ein, zwei Stunden in sein Atelier, um zu malen. Als es auf das Ende zuging, hat er die Leinwand ins Kinderzimmer getragen und dieses überhaupt nicht mehr verlassen. Er aß nicht, trank nicht, schlief nicht. Diejenigen, die ihn in dieser Zeit gesehen haben, erzählen, dass Jessichin entsetzlich aussah: die Haare zottig, unrasiert, das Hemd mit Farbflecken beschmiert, malte er das Porträt seiner Tochter – im Wissen darum, dass

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