Pellkartoffeln und Popcorn
gegenüber ließen sich die teilweise unvollständigen Schularbeiten notfalls mit Stromsperren erklären, die ein sorgfältiges Arbeiten bedauerlicherweise verhindert hatten. Und am Nachmittag hatten wir keine Zeit gehabt, weil man wieder irgendwo nach irgend etwas anstehen mußte. Das Gegenteil sollte erst mal jemand beweisen!
Im übrigen waren auch die anderen Zehlendorfer der gleichen Meinung. Wir gingen lieber gemeinsam zum Rodeln oder später zum Baden und beschränkten unsere geringen geistigen Anstrengungen ausschließlich auf die Schulstunden. Da mein Versetzungszeugnis jedoch überdurchschnittlich gut ausgefallen war (die meiner Mitschülerinnen auch; aber das verschwieg ich zu Hause), kam meine Mutter zu der Erkenntnis, daß ich offensichtlich hochbegabt und von ihr bedauerlicherweise bislang völlig verkannt worden war.
Früher war ich gerne einkaufen gegangen, auch wenn es sich bei diesen Besorgungen meist nur um sechs Brötchen oder ein Päckchen Nähnadeln handelte. Später, als ich schon lesen konnte, durfte ich auch manchmal mit einer Liste losziehen und marschierte stolzgeschwellt erst ins Fischgeschäft wegen der drei Rollmöpse, anschließend zu Kaffee-Otto, um Puderzucker, Kartoffelmehl und Zwieback zu holen, und dann noch in die Apotheke, weil wir kein Heftpflaster mehr hatten und der Lebertran auch schon wieder alle war. Dann durfte ich überhaupt nicht mehr einkaufen, weil ich einmal die Brotkarte verloren hatte, und schließlich mußte ich wieder einkaufen, weil ich die jüngsten Beine hatte und am längsten stehen konnte. Das war nach dem Krieg und hatte mit Einkaufen sowieso nichts mehr zu tun.
Seitdem die Amerikaner sich in der Ladenstraße häuslich niedergelassen hatten, gab es kein Geschäftszentrum mehr. Die ausquartierten Ladenbesitzer eröffneten ihre Verkaufsräume in Notunterkünften, vor allem in leerstehenden Garagen, oder sie beendeten ihre Karriere als Einzelhandelskaufmann und begannen eine neue als Schwarzhändler, weil das lukrativer war. Dann gab es wieder andere, die bisher nur vor dem Ladentisch gestanden hatten und sich plötzlich dazu berufen fühlten, hinter dem Tresen zu stehen. Wer politisch eine reine Weste hatte, bekam sofort die notwendige Lizenz und brauchte auch keine Fachkenntnisse, denn genaugenommen verkaufte er ja nichts, sondern verteilte nur grammweise die Rationen, die er selbst zentnerweise geliefert bekam. Zu diesen selbständigen Gewerbetreibenden gehörte Herr Guber.
Er bewohnte ein Reihenhaus Am Hegewinkel, also nur ein paar Minuten von uns entfernt, und eines Tages klebten an Bäumen und Straßenpfählen hektographierte Zettel, auf denen Herr Guber der geschätzten Kundschaft die Neueröffnung seines Lebensmittelgeschäftes kundtat.
»Das finde ich aber prima!« erklärte Omi, die kurzerhand irgendwo einen Zettel abgerissen und mitgebracht hatte, damit wir ihn alle lesen konnten. »Bis zu Otto war mir das sowieso immer zu weit, und jetzt haben wir einen Laden ganz in der Nähe. Ich werde uns am besten gleich einschreiben lassen.«
Man mußte sich damals in einem Geschäft seiner Wahl registrieren lassen und konnte fortan nur dort kaufen, weil der Einzelhändler seine Ware nur anhand der Kundenliste zugeteilt bekam. Bisher hatten wir immer noch bei Otto gekauft, obwohl der jetzt in einer Garage jenseits des Bahnhofs hauste, nach Tante Elses Ansicht ›das nächste Ende von hierc. Aber zur Butter-Berta, die gegenüber der Ladenstraße ihre Zelte aufgeschlagen hatte, wäre Omi auf keinen Fall gegangen, da wanderte sie lieber einen halben Kilometer länger.
Sie löschte also unseren Namen in Ottos Kundenliste und schrieb uns bei Guber ein, der sich offenbar eines regen Zulaufs erfreute. Die Liste war schon meterlang.
Als ich zum erstenmal hinkam, um ein Viertelpfund Kaffee-Ersatz zu holen, war der Laden menschenleer. Herr Guber saß hinterm Ladentisch auf einem Stuhl und las etwas Amtliches. Er war groß und erstaunlich gut genährt, hatte einen Kugelkopf und eine Beinahe-Glatze. Die übriggebliebenen Haare reichten in Form einer Halbinsel fast bis zur Stirn.
»Haste ’ne Tüte mit?« erkundigte sich Herr Guber, als ich meinen Wunsch geäußert und den Abschnitt Ka der Lebensmittelkarte für Normalverbraucher auf den Ladentisch gelegt hatte.
»Nein, die habe ich vergessen«, gestand ich beschämt. Ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen, daß man neuerdings das Verpackungsmaterial mitzubringen hatte, wenn man etwas einkaufen wollte. Es
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