Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
Vom Netzwerk:
lateinischen Namen des jeweiligen Gewürms kannte. Schnatterte man darüber hinaus noch eine kurz vor Beginn der Stunde wörtlich eingelernte Passage aus dem Lehrbuch nach, war sie vollauf zufrieden.
    Meine Freundin Regina machte sich Frau Griesingers Marotte bei einer späteren Gelegenheit zunutze, als sie im Rahmen einer mündlichen Prüfung über Vögel referieren sollte und keine Ahnung davon hatte. Sie war auf Würmer präpariert. Also verzapfte sie ein paar allgemeine Weisheiten über unsere gefiederten Freunde, erklärte, daß diese sich hauptsächlich von Würmern ernähren und legte dann eine flüssig vorgetragene Abhandlung über die Spezies Wurm hin. Das ergab eine glatte Eins.
    In Deutsch unterrichtete uns Fräulein Dr. Leibnitz, ein schusseliges Nervenbündel, das ständig irgend etwas vergaß, mitunter auch unsere Klassenarbeiten, so daß wir in der Pause noch schnell die notwendigen Korrekturen anbringen konnten, bevor wir ihr die Hefte ins Lehrerzimmer nachtrugen. Außerdem war sie kurzsichtig, aber zu eitel, eine Brille zu tragen. So blinzelte sie ständig die ersten beiden Bankreihen an, die sie offenbar noch klar erkennen konnte, und wer weiter hinten saß, blieb ungeschoren. Wir gewöhnten uns also daran, im Bedarfsfall vor den Deutschstunden die Plätze zu tauschen. Wer noch etwas zu lernen oder abzuschreiben hatte, setzte sich nach hinten und war ungestört. Der Rest verteilte sich auf die vorderen Bänke, heuchelte Interesse und arbeitete im bescheidenen Umfang mit. Im übrigen zeichnete sich der Deutschunterricht durch gähnende Langeweile aus.
    Von den Englischstunden konnte ich das nicht behaupten. Sie wurden von Frau Dr. Müller-Meiningen abgehalten, dem personifizierten Abbild englischer Gouvernanten, wie wir sie uns nach den Schilderungen in Jungmädchenbüchern vorstellten. Unbestimmbaren Alters, etwa um die Fünfzig, lang und hager, die spärlichen grauen Haare zu einem Dutt aufgesteckt und stets in formlose Tweedkostüme gehüllt. Die Röcke reichten bis zur Wade, die dazugehörigen Jacken fast bis zum Knie, und die Hemdblusen ließen eventuell vorhandene weibliche Formen niemals auch nur erahnen. Dazu trug sie klobige Treter Marke ›latsch-latsch, die Heide blüht‹, die vermutlich noch aus der Mitte der zwanziger Jahre stammten, und bei pfleglicher Behandlung auch weitere zwanzig Jahre überdauern würden.
    Frau Dr. Müller-Meiningen hatte ihr halbes Leben in England verbracht und in privaten Mädchenschulen den Töchtern der Aristokratie Deutschunterricht erteilt. Eine Zeitlang hatte sie sogar auf einem Landsitz in Sussex gelebt und die Abkömmlinge eines Earls oder Lords betreut. Kurz nach Kriegsende, als sich auch Englands Hochadel mehr um das leibliche als um das geistige Wohl seines Nachwuchses kümmern mußte, hatte sie sich an ihre immer noch bestehende deutsche Staatsbürgerschaft erinnert und war kurzentschlossen in die Heimat zurückgekehrt, bereit, ihre dank der alliierten Besatzung nunmehr doppelt wertvollen Sprachkenntnisse deutschen Schülern zu vermitteln.
    Sie sprach reines Oxfordenglisch, und keiner von uns ist es gelungen, ihre exzellente Aussprache auch nur annähernd zu erreichen. Dabei hat sie sich wirklich redliche Mühe gegeben, uns das vertrackte englische R beizubringen, das um Himmels willen nicht gegurgelt werden durfte, wie wir es ständig von den Amerikanern hörten. Wochenlang mußten wir Taschenspiegel mit in die Schule bringen und kontrollieren, ob wir das Rachenzäpfchen auch in die erforderliche Stellung gebracht hatten, die allein eine korrekte Aussprache ermöglichte. Manchmal sollten wir uns auch gegenseitig in den Hals starren, kamen uns vor wie verhinderte Laryngologen und fanden die ganze Sache reichlich albern. Aber die etwas unübliche Methode verfehlte nicht ihre Wirkung. Wir lernten schließlich doch alle eine ganz passable Aussprache.
    Frau Dr. Müller-Meiningen besaß einen ausgeprägten Ordnungssinn und hatte immerzu etwas zu beanstanden. Mal war die Kreide nicht sorgfältig genug gespitzt, dann wieder der Tafelschwamm nicht ausgewaschen, oder das Klassenbuch lag noch auf dem Fensterbrett anstatt im rechten Winkel exakt ausgerichtet auf dem Pult. Sobald Frau Müller-Meinigen das Klassenzimmer betrat, pflegte sie über die Tischplatte zu fahren, ostentativ den unsichtbaren Staub vom Zeigefinger zu blasen und sich mit anklagender Miene zu erkundigen: »Who has the order?« Worauf die für den Tafeldienst eingeteilte Schülerin aufstand

Weitere Kostenlose Bücher