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Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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Rücksicht nahmen und an solchen Tagen nur Mündliches aufgaben. Vokabeln kann man schließlich überall pauken. Manchmal verabredete ich mich zum Anstehen auch mit Irene und Anita, deren Eltern ebenfalls bei Guber kauften, und dann hörten wir uns gegenseitig die Nebenflüsse der Loire ab oder memorierten gemeinsam ›Des Sängers Fluchc. »Wenn wir bis zu der abgebrochenen Zaunlatte vorgerückt sind, müssen die ersten vier Strophen sitzen!« Stühle lehnten wir übrigens ab. Das Mitbringen von Sitzgelegenheiten war das Vorrecht älterer Leute, also so ab Mitte Dreißig. Wir hockten uns lieber auf die Gartenzäune oder notfalls auf die Bordsteinkante.
    Nun ist Schlangestehen nicht gerade eine kurzweilige Beschäftigung, aber zumindest noch erträglich, wenn es warm ist und die Sonne scheint. Manchmal regnete es aber auch am 11. oder 21., und dann wurde das ganze Unternehmen entschieden ungemütlicher.
    Dieselben Leute, die noch vor zehn Tagen Kochrezepte unter Verwendung von Maisgrieß und Butteraroma getauscht oder einen alten Pullover aufgeräufelt hatten, während der Vordermann bereitwillig die Wolle gewickelt hatte, keiften sich nun gegenseitig an, weil jemand ein kurzes Schwätzchen mit einem Bekannten am Schlangenende gehalten hatte und nun wieder an seinen Platz zurückkehren wollte. »Det jeht aber nu nich, wir müssen ja ooch alle stehenbleiben!« oder »Zwischendrängeln is nich! «Zur offenen Revolte kam es immer dann, wenn eine Dame mit Köfferchen oder großer Einkaufstasche auftauchte, schweigend die durchnäßte Menschenschlange abschritt, den Laden betrat und zielsicher in den hinteren Räumen verschwand. Mit ihr verschwand Frau Guber, um nach anderthalb oder zwei Stunden wieder aufzutauchen, frisch frisiert und manikürt, manchmal auch mit einem neuen Kleid, wenn die Dame mit dem Koffer nicht die Friseuse gewesen war, sondern die Schneiderin. Schließlich war man jetzt wer, und man konnte sich etwas leisten! Und man leistete sich derartige Demonstrationen mit Vorliebe am Dekadenanfang, damit auch alle Leute sehen konnten, daß man sich etwas leisten konnte.
    Annegret wischte alle Vorwürfe hoheitsvoll beiseite. »Ich bin eine Geschäftsfrau und stehe den ganzen Tag im Laden.
    Wann sollte ich also zum Friseur gehen? Ich muß froh sein, daß die Friseuse zu mir kommt!« Die kam aber viel zu gerne, denn wenn sie nach vollbrachter Tat den Laden wieder verließ, trug sie an ihrer Tasche entschieden schwerer als bei ihrer Ankunft.
    Herrn Guber waren die Eskapaden seiner Angetrauten sichtlich peinlich, und er zuckte jedesmal resigniert mit den Schultern. »Wat soll ick denn machen? Der Laden jehört ihr, ick bin bloß det Anhängsel. Ick hab’ ja nich ahnen können, det die plötzlich eenen Triller untern Pony kriegt. Aber is det’n Wunder? Von alle Leute wird se hofiert, und nu is ihr det in’n Kopp jestiegen.«
    Omi prophezeite Fürchterliches. Als Frau Guber wieder einmal frischgelackt aus dem Hinterzimmer kam, verkündete sie unter beifälligem Nicken der anderen Kunden lautstark: »Es werden auch wieder andere Zeiten kommen, und dann werden Sie noch über jeden Kunden froh sein, der Ihren Laden überhaupt betritt!«
    Ihre Kassandra-Rufe erfüllten sich. Ein halbes Jahr nach der Währungsreform schraubte Herr Guber sein Ladenschild ab, ließ einen Maler kommen und verwandelte das Lebensmittelgeschäft wieder in ein Wohnzimmer. Daraufhin reichte Annegret die Scheidung ein.
    Aber es gab auch Dinge, die man ohne Anstehen und vor allem auch ohne Marken kaufen konnte, und dazu gehörten vor allem Aromen. Ich weiß nicht mehr, ob man das Zeug in der Drogerie oder in einem ähnlich sortierten Laden bekam, jedenfalls gab es für alles, was es nicht gab, ein Aroma. Butteraroma zum Beispiel, das Omi immer sehr großzügig in ihre gelegentlichen Kuchen kippte, oder Himbeeraroma, mit dem sie die bis zur Unkenntlichkeit verdünnte selbstgekochte Marmelade anreicherte. Tante Else schwärmte für Bittermandelaroma, das in den reichlich faden Maisbrei kam. Der Genuß dieser unansehnlichen Pampe hätte vermutlich jeden Amateur-Kriminalisten an einen gezielten Massenmord mit Zyankali denken lassen!
    Die damals kreierten Heißgetränke, von denen jede bessere Kneipe verschiedenfarbige Ausführungen zu bieten hatte, wurden teilweise mit Rumaroma aufgenordet und rochen manchmal sogar wie Grog. Im übrigen bestanden sie aus heißem Wasser, Süßstoff und Chemie. Waren sie dunkelrot, deklarierte man sie als

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