Pellkartoffeln und Popcorn
und mit dem vorher gründlich in Kreide getauchten Lappen noch einmal über das Pult wischte. Irgend jemand brachte sogar mal eine Art Möbelpolitur mit, die wir vor der Stunde großzügig über das ganze Katheder verteilten. Im Klassenzimmer stank es erbärmlich, aber soweit ich mich erinnere, fand Frau Dr. Müller-Meiningen zu unserer Überraschung an diesem Tag zum ersten (und einzigen) Mal nichts zu bemängeln.
Für den Sportunterricht war Fräulein Dr. Rosenberg vorgesehen. Ich sage absichtlich vorgesehen, denn er fand zunächst einmal gar nicht statt. In Berlin – und nicht nur hier – grassierte die spinale Kinderlähmung, und es wurde allgemein empfohlen, Massenansammlungen und körperliche Anstrengungen zu meiden. Da man offensichtlich auch Rumpfbeugen oder Ballspielen für anstrengend erachtete, wurden die Turnstunden bis auf weiteres gestrichen und durch das völlig neuartige Fach ›Verbandlehre‹ ersetzt.
Heute würde man vielleicht ›Erste Hilfe‹ dazu sagen, aber unsere Ausbildung war reichlich mangelhaft und beschränkte sich vorwiegend auf das Anlegen von KornährenVerbänden und die Behandlung etwaiger Schlagader-Verletzungen. Zu diesem Zweck mußte sich die Patientin auf zwei zusammengeschobene Stühle legen, und dann wickelten wir ihr nicht immer ganz saubere Taschentücher, Tafellappen oder auch mal ein Unterhemd um Arme und Beine. Gleich zu Anfang hatten wir gelernt, daß im Notfall jeder Fetzen Stoff lebensrettend sein kann. Weiterhin erfuhren wir, daß Kamillentee ein probates Hilfsmittel bei Magenbeschwerden ist und Eisen die Blutbildung fördert. Worin diese Substanz enthalten ist, wußte Frau Grünwald nicht zu sagen, denn sie gab ja normalerweise Handarbeitsunterricht und hatte von medizinischen Dingen nicht viel mehr Ahnung als wir. Ihre Kenntnisse im Verbändewickeln stammten noch aus der Zeit der Fliegeralarme und Luftschutzkeller.
Als letzte wäre noch Frau Dietz zu erwähnen, bei der wir Zeichnen hatten. Anfangs erschöpfte sich der Unterricht in den Biographien bedeutender Maler, denn wir hatten kein Zeichenpapier, um unsere eigenen künstlerischen Fähigkeiten zu erproben. Endlich erhielten wir irgendwelche Reste von Rotationsrollen, wie sie beim Zeitungsdruck verwendet werden. Mit Wasserfarben ließ sich darauf nicht arbeiten, so kamen die guten alten Buntstifte wieder zu Ehren, die noch Kriegsqualität hatten und andauernd abbrachen.
Frau Dietz war eine begeisterte Anhängerin des Naturalismus und ließ uns mit Vorliebe Blumen zeichnen. Zu diesem Zweck stellte sie eine Vase auf das Pult, die sie mit ein paar Stengeln Narzissen und drei roten Tulpen füllte, und dann mußten wir dieses Stilleben möglichst naturgetreu abmalen. Besonders Eifrige zählten sogar die Anzahl der Staubgefäße in den Blüten! Da wir lediglich zwei Zeichenstunden pro Woche hatten und außerdem keine von uns bemerkenswerte Begabung mitbrachte, kamen wir mit unseren Werken nur sehr langsam voran. In der folgenden Woche war unser Anschauungsmaterial verwelkt und wurde durch neues ersetzt. Wir änderten also unsere roten Tulpen in rosageflammte, malten noch zwei weitere Narzissen dazu; und dann waren die beiden Stunden auch schon wieder vorbei.
Die Zeit der Tulpenblüte ist auf eine kurze Dauer beschränkt, die der Narzissen noch geringer! Also strichelten wir Levkojen, später Rosen und hatten unsere Gemälde bis zum Beginn der Sommerferien noch immer nicht beendet. Schließlich kapitulierte Frau Dietz und wanderte mit uns ins Freie. Künftig mußten wir vor Ort Ruinen zeichnen, von denen sie mit einiger Berechtigung annehmen konnte, daß sie auch noch für längere Zeit ihr unverändertes Aussehen behalten würden.
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Alles in allem fand ich die Schule recht erträglich, machte kaum je Hausaufgaben – wozu auch? –, und hielt die Erzählungen meiner Mutter für maßlos übertrieben und daher unglaubwürdig. Sie behauptete doch allen Ernstes, während ihrer eigenen Schulzeit stundenlang über den Arbeiten gebrütet und sogar noch abends im Bett Vokabeln gelernt zu haben. Deshalb begegnete sie meinen ständigen Beteuerungen, wir hätten nichts auf, mit berechtigtem Mißtrauen. Natürlich hatten wir etwas auf, aber weshalb sollte ich mich mit mathematischen Gleichungen herumschlagen, wenn ich sie viel bequemer und vor allem richtig in der nächsten Deutschstunde irgendwo abschreiben konnte? Schließlich gab es immer ein paar Verrückte, die tatsächlich Hausaufgaben machten.
Den Lehrern
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