Pellkartoffeln und Popcorn
Wasser- und bescheidenen Lebensmittelvorräten ausgerüstet, den Umgang mit nassen Decken gegen Rauchentwicklung gelernt und die Angst vor Mäusen verloren. Die sahen sich in ihrem bisher friedlichen Dasein gestört und liefen einem alle naselang vor die Füße. Wir waren also für das Kellerleben gerüstet.
Der erste richtige Fliegeralarm begann in den späten Abendstunden. Bisher hatten wir nur scheinbare Luftangriffe erlebt, denn dank deutscher Gründlichkeit wurde auch das zügige, aber dennoch disziplinierte Verlassen der Wohnungen und Aufsuchen der Schutzräume ein halbes Dutzend Mal durchexerziert.
Als aber gegen 21 Uhr völlig unerwartet die Sirenen heulten, war von Disziplin und Ordnung nichts mehr zu spüren. Omi ergriff nicht etwa ihren vorbereiteten Koffer mit Ausweispapieren, Lebensmittelkarten und Garderobe, sie klemmte sich vielmehr die große Kristallvase unter den Arm und suchte ihre Brille im Küchenherd. Plötzlich fiel ihr ein, daß ich ja schon im Bett lag.
»Steh schnell auf, Kind, wir haben Fliegeralarm.«
»Schon wieder?«
»Diesmal habe ich doch nichts davon gewußt, sonst hätte ich dich ja gar nicht erst ins Bett geschickt. Nun beeil dich, wir können doch den ersten
richtigen
Alarm nicht versäumen.«
Dann legte sie mir statt des immer wieder empfohlenen Trainingsanzugs das karierte Sonntagskleid zum Anziehen heraus, kontrollierte, ob auch alle Wasserhähne geschlossen waren und sperrte statt des Hauptgashahnes die gesamte Stromzufuhr ab. Endlich drückte sie mir, die ich das alles sehr aufregend fand, meinen Teddy und ein Glas mit eingemachten Pflaumen in die Hand, und gemeinsam zogen wir in den Keller.
Jägers saßen schon unten. Frau Molden samt Mümmchen und Grete, die beim ersten Sirenenton zur Hilfe herbeigeeilt war, stapelten ihr umfangreiches Gepäck in einer Ecke übereinander. Frau Zillig erschien mit ihrer vierjährigen Tochter Jutta im Schlepptau, in einer Hand einen kleinen Radioapparat, in der anderen einen Teller mit Apfelkuchen. Vielleicht hätte jemand Appetit…?
Als letzter kam Herr Leutze. Seine runde Brille, mit der er immer wie eine Eule aussah, hatte er gegen jene Scheußlichkeit ausgewechselt, die man auch unter Gasmasken tragen konnte. Er war vorschriftsmäßig mit Trainingsanzug und festen Schuhen bekleidet, trug über dem Arm eine Wolldecke und in der Hand einen Kochtopf, weil man derartige Gefäße notfalls als Stahlhelm benutzen konnte.
Dann tauchte Frieda auf und fragte, ob wir auch die Fenster in den Wohnungen geöffnet hätten. Natürlich hatte niemand daran gedacht.
»Nun übt man das mit euch monatelang, und wenn es ernst wird, benehmt ihr euch wie aufgescheuchte Hühner.«
Die Hühner gingen wieder nach oben und öffneten die Fenster. Anschließend musterte Frieda die Kellerrunde. »Sind denn überhaupt alle da?«
Omi entschuldigte ihre Tochter, die sei heute bei Freunden.
»Und wo ist Ihre Frau?« bellte Frieda Herrn Leutze an.
»Die ist vor zwei Tagen zu Verwandten nach Tübingen gefahren.«
»Wieso haben Sie mir das nicht schon längst gemeldet?« Frieda wurde amtlich. »Sie wissen doch genau, daß über längerfristig abwesende Hausbewohner Meldung zu machen ist. Wie soll ich hier planmäßige Rettungsmaßnahmen ergreifen, wenn ich nicht einmal weiß, wie viele Personen anwesend sind?«
Die Rettungsmaßnahmen erübrigten sich zunächst einmal. Wir saßen im Keller und wußten nicht so recht, weshalb. Draußen war alles ruhig. Das Radio auch. Der Drahtfunk, dem wir später genaue Informationen über vermutliche Anzahl und erwartete Angriffsziele der feindlichen Flugzeuge entnehmen konnten, hatte offenbar noch mit Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen. Wir hörten kein Flugzeug, wir hörten keine Flak, wir hörten nur Herrn Jägers Schnarchen.
»Wir können doch wenigstens die Kinder hinlegen«, sagte Omi, »wozu haben wir denn die Betten?«
Die Kinder kamen also in die Betten, schliefen auch sofort ein und wurden gegen drei Uhr morgens schlafend in die Wohnungen getragen. Es hatte endlich Entwarnung gegeben.
Am nächsten Tag konnten wir in den Zeitungen lesen, daß mehrere feindliche Aufklärungsflugzeuge in den Luftraum von Groß-Berlin eingedrungen waren, weshalb man für die Bevölkerung Fliegeralarm gegeben hatte.
Diese Feindeinflüge wiederholten sich mit schöner Regelmäßigkeit jeden Abend, und so gewöhnten wir uns daran, zumindest den ersten Teil der Nacht im Keller zu verbringen. Vereinzelt waren in der Innenstadt auch schon
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