Pellkartoffeln und Popcorn
Brille noch gehabt habe, als wir uns die Fotos angesehen haben.«
»Wenn ich mich nur erinnern könnte, ob ich meine Schlüssel überhaupt mitgenommen habe …«
»Sehr liebenswürdig, Frau Möbius, daß Sie mir aushelfen wollen, aber das Portemonnaie muß ja irgendwo sein…«
Punkt Mitternacht klingelte Frau Humberts Chauffeur, und dann gab es auch für die anderen Damen kein Halten mehr. Die vorletzte U-Bahn fuhr um halb eins – die letzte kam nicht in Frage, denn das war der ›Lumpensammler‹ und seine Fahrgäste nicht immer präsentabel – und spätestens um viertel marschierten die Damen ab.
3
Ab 1942 merkten auch wir Kinder immer häufiger, was Krieg eigentlich bedeutete. Krieg bedeutete einen zunehmenden Mangel an Dingen, die sonst immer selbstverständlich waren. Schokolade gab es nur noch selten, außerdem mußte man dafür Zuckermarken abliefern, und die reichten sowieso nie.
Krieg bedeutete die Demontage von Ottos Kaffeeröstanlage, weil nichts mehr zum Rösten da war. Statt dessen kamen große Pappdosen mit Vierfruchtmarmelade und Kunsthonig ins Schaufenster.
Krieg bedeutete, daß man heruntergelatschte Schuhe nicht mehr in den Mülleimer warf, sondern sie zusammen mit ein paar Zigaretten immer wieder zum Schuster brachte, damit er die Treter noch einmal zusammenflickte. Neue Schuhe gab es nur auf Bezugsschein, und den wiederum häufig nur mit Beziehungen. Wir hatten keine.
Krieg bedeutete auch die zwecklose Suche nach Zahnpasta und Toilettenseife. Statt dessen bekamen wir sogenannte Zahnputzsteine, die Rosodont hießen, wie Schneiderkreide aussahen und auch so ähnlich schmeckten. Waschen mußten wir uns mit einer grünlichen Kriegsseife, die überhaupt nicht schäumte und spätestens nach drei Tagen in der Mitte durchbrach. Nach weiteren drei Tagen bestand sie nur noch aus briefmarkengroßen Stückchen, und wenn man nicht aufpaßte, rutschten sie in den Abfluß.
»Seife macht man doch aus Knochen, nicht wahr?« sagte Omi. »Ich habe aber noch nie gehört, daß man sich gegenseitig mit Knochen beschießt. Weshalb also gibt es nun auch keine Seife mehr?« Dann nähte sie die Seifekrümel in einem Müllsäckchen ein und hängte es an die Wand.
Mir machte das allerdings nicht viel aus. Ich befand mich damals in dem Alter, wo man auf Körperpflege keinen allzu großen Wert legt und speziell mit Seife sehr sparsam umgeht.
Krieg bedeutete auch das zunehmende Verschwinden aller jungen, jüngeren und nicht mehr ganz jungen Männer aus dem Straßenbild. Herr Molden war eingezogen worden und Herr Zillig, Herr Hülsner und der Vater von Klaus. Harald Leutze streckte mir nicht mehr die Zunge heraus, sondern grüßte zackig, seitdem er eine Flakhelfer-Uniform trug, und sogar Herr Lehmann lief in einem pseudomilitärischen Aufzug herum, obwohl er hinkte und nicht zu den Fahnen geeilt worden war. Die männliche Komponente in unserem Haus vertraten nur noch Herr Leutze, der ein Herzleiden hatte, und Herr Jäger, der schon zu alt war.
Die Post brachte jetzt eine Briefträgerin, die sich nicht gerade durch Diskretion auszeichnete und schon von wietem verkündete, was sie mitbrachte. »Ick hab’n Feldpostbrief von Ihr’n Schwiejasohn aus Frankreich und denn noch ’ne Karte aus Heringsdorf. Mir wundert bloß, det die Leute immer noch ans Verreisen denken. Soll’n doch zu Hause bleiben, wer weeß, wie lange se überhaupt noch eens haben.«
Auf den U-Bahnhöfen schwenkten neuerdings Stationsvorsteherinnen die Kelle, Frauen steuerten Omnibusse und Straßenb ahnen, und der Rektor in unserer Schule wurde von einem Mitglied der NS-Frauenschaft abgelöst. Während der Turnstunden brachte sie uns militärischen Drill bei und begleitete unser mangelndes Interesse an dieser Sportart mit den aufmunternden Worten:
»Wartet erst einmal ab, bis ihr in den BDM kommt! Da wird man euch schon Zucht und Ordnung beibringen!«
BDM hieß ›Bund Deutscher Mädchen‹ und war das Gegenstück zur sattsam bekannten Hitlerjugend. Angeblich bedeutete es eine große Ehre, wenn man in diesen Verein aufgenommen wurde. Wir wußten aber inzwischen, daß diese Ehre zwangsweise allen Zehnjährigen zuteil wurde, und was man müssen muß, verliert seinen Reiz. Außerdem waren wir erst acht.
Eine weitere und besonders von Omi verwünschte Begleiterscheinung des Krieges war die behördlicherseits angeordnete Verdunkelungspflicht. Sobald die Dämmerung hereingebrochen war, mußte jeder sämtliche Fenster verdunkeln, damit beim Einschalten
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