Pellkartoffeln und Popcorn
Karnickelfutter?«
»Die Eier mußt du jetzt auch wieder alleine zusammensuchen, dabei legt die braune Henne sie neuerdings ganz hinten in die alte Remise«, schluchzte ich. »Und die Ferkel kann ich nun auch nicht mehr sehen.« Dabei wartete ich schon seit Tagen, daß die Muttersau endlich werfen würde. Nein, also leicht fiel mir der Abschied von Harteck bestimmt nicht.
Onkel Georg tröstete mich. »Irgendwann ist der Krieg ja mal zu Ende, und in den Sommerferien kommst du uns immer besuchen. Dann fahren wir auch wirklich mal ans Haff.«
Tante Lisbeth drückte Mami einen Zettel in die Hand. »Das ist die Adresse von meiner Tochter in Dresden. Wenn wir hier eines Tages doch noch wegmachen müssen, dann werden wir dorthin gehen. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns einmal wieder.«
Am Nachmittag brachten uns Nawrotzkis zum Bahnhof. Onkel Georg schob das alte Fahrrad, auf das er den Koffer gestellt hatte, und Tante Lisbeth trug den Handkoffer.
»Sie kaufen also jetzt nur Fahrkarten nach Insterburg«, wiederholte Onkel Georg noch einmal, »da müssen Sie sowieso umsteigen, und dort können Sie vielleicht nachlösen. Wenigstens schöpft hier niemand Verdacht, das ist zunächst das wichtigste. Hauptsache, Sie kommen erst einmal weg.«
»Da ist ja schon wieder ein Knopf abjerissen«, rügte Tante Lisbeth und zupfte an meinem blauen Rock herum. »Warum hast du nichts jesagt, ich hätte ihn doch schnell noch anjenäht.«
Auf Mamis Geheiß hatte ich meine Uniform anziehen müssen. »Ich kann diesen Aufzug zwar nicht ausstehen, aber unter Umständen ist er jetzt ganz nützlich.«
Das asthmatische Züglein kam angeschnauft. Wir stiegen ein, das Abteilfenster klemmte – das taten die alle –, also öffnete Mami noch einmal die Tür. Ein letzter Händedruck, dann setzte sich die feuerspeiende Lokomotive in Bewegung.
»Viel Glück!« rief Onkel Georg.
»Kommt wieder!« sagte Tante Lisbeth.
Ich habe beide nie mehr gesehen. Die Flucht aus Ostpreußen ist ihnen zwar noch geglückt, denn wir erhielten Anfang 1945 einen Brief aus Dresden, dann aber kam kein Lebenszeichen mehr, obwohl wir mehrmals an die angegebene Adresse geschrieben haben. Vermutlich sind sie bei dem großen Luftangriff ums Leben gekommen.
Auch Christa kam nicht mehr nach Berlin zurück. Sie wurde zwar von ihrem Vater noch rechtzeitig aus Harteck herausgeholt und zu ihrer Großmutter nach Kiel gebracht, denn nach dem Krieg habe ich noch Post von ihr bekommen, aber dann hat sie nicht mehr geantwortet. Ihre Eltern hatten die alte Wohnung aufgegeben, die Nachbarn wußten auch nichts. Und so habe ich ihre Spur verloren.
10
Insterburg. Ein Bahnhof wie viele, zugig, ungemütlich und nur durch ein paar abgedunkelte Funzeln spärlich beleuchtet.
»Wir haben anderthalb Stunden Aufenthalt«, sagte Mami, »laß uns mal sehen, ob wir etwas zu essen kriegen.« Ich hatte keinen Hunger. Tante Lisbeths Schinkenbrötchen hielten vor.
»Egal, wir können ja nicht die ganze Zeit herumstehen.«
Folgsam steuerte ich den Wartesaal an.
»Lieber nicht, hier spuken bestimmt die Kettenhunde herum.« So wurden die Militärstreifen genannt, die schon von weitem an ihren vor der Brust baumelnden Blechschildern zu erkennen waren. »Vielleicht gibt es in der Nähe ein Restaurant.« Es gab eins. Das hatte wegen Familienfeier geschlossen. Also zurück zum Bahnhof. Im Wartesaal hockten ein paar Soldaten, eine Rote-Kreuz-Schwester lief mit einer weißen Emaillekanne herum und verteilte Tee. Ich bekam auch welchen. Offenbar war er aus allen genießbaren Pflanzen zusammengebraut, die am Bahndamm wuchsen. Zucker war auch nicht drin. Mami bestellte Kaffee. Der sah dunkelgrün aus und bestand ihrer Ansicht nach überwiegend aus Wäschetinte. In der Ecke plärrte ein Radio. ›Wovon kann der Landser denn schon träumen…?‹ Vermutlich von einem Bett. Ich war hundemüde.
Die Soldaten sammelten ihre Tornister zusammen und schlurften zum Ausgang. Wir auch. Mami löste eine Bahnsteigkarte.
»Wozu denn das?«
»Ich muß dich doch irgendwie durch die Sperre kriegen.« Eine Fahrkarte konnte sie mir ja wegen der fehlenden Reisegenehmigung nicht kaufen. Dafür sah ihre eigene sehr eindrucksvoll aus, war mit einem halben Dutzend Stempeln bepflastert und trug zwei Unterschriften. Außerdem berechtigte sie zur Benutzung der ersten Klasse.
Der Zug war stockdunkel. Die Springrollos vor den Fenstern mußten nachts geschlossen bleiben, obwohl die Abteile nur mühsam von einer blauangepinselten
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