Pellkartoffeln und Popcorn
Bezüge heute unmodern sind!
Tante Else saß bereits über meiner Garderobe, ließ Rocksäume heraus, und wo nichts mehr rauszulassen war, wurde angestückelt. Das war damals modern und notgedrungen üblich. Mami kämpfte sich durch den immer noch üppig wuchernden Behördendschungel, besorgte Bescheinigungen, Ab- und Ummeldungen, Marschpapiere und Lebensmittelkarten. »Daß wir den Krieg verlieren, ist mindestens zur Hälfte die Schuld von diesen Paragraphenhengsten«, stöhnte sie und drückte mir eine prallgefüllte Kunstledermappe in die Hand. »Paß bloß gut darauf auf, ohne diese Papiere existierst du nämlich sonst gar nicht!«
Am darauffolgenden Abend brachten wir Mami zum Zug. Nachtfahrten galten als sicherer, weil man dann wenigstens nicht mit Tieffliegerangriffen zu rechnen brauchte. Omi war todunglücklich. »Hoffentlich kommst du überhaupt noch durch. Die Alliierten sollen ja schon bald an der deutschen Grenze sein.«
»So schlimm ist es nun doch noch nicht, schon gar nicht im Süden. Im übrigen komme ich so schnell wie möglich zurück. Die haben in Frankreich jetzt andere Sorgen als Volksbelustigung durch Fronttheater.«
Auf dem Rückweg malte Omi alle Möglichkeiten aus, denen ihre Tochter nunmehr ausgeliefert war. Sie begannen mit dem zu erwartenden Angriff französischer Widerstandskämpfer; dann folgte der vermutliche Einsatz als Blitzmädchen oder Krankenschwester (was den vorherigen Partisanenüberfall natürlich ausschloß) und gipfelte in der Vorstellung, Mami könne in amerikanische Gefangenschaft geraten und zur Frontarbeit im Steinbruch verurteilt werden. Ob es in Frankreich solche gab, wußte Omi nicht, aber nach ihrer Ansicht arbeiteten alle Gefangenen in Steinbrüchen.
Die letzten Tage bis zu meiner Abreise schienen kein Ende zu nehmen. Ich langweilte mich erbärmlich. Kinder zum Spielen waren nicht da. Tante Else saß dauernd an der Nähmaschine, und mit Omi wollte ich mich auch nicht immer unterhalten. Sie korrigierte nach jedem Satz meine Aussprache, denn ich sagte weiterhin ä statt e, j statt g und zog alle Wörter in die Länge. Zu allem Überfluß mußte ich immerzu in der Nähe unseres Hauses bleiben, weil es häufig Fliegeralarm gab.
Ich war außerordentlich froh, als plötzlich Frau Zillig auftauchte, um mal wieder nach dem Rechten zu sehen. Sie wohnte schon seit langem bei ihren Eltern in Neuruppin. In der verwaisten Wohnung war offiziell eine befreundete Familie eingezogen, die sich aber nie blicken ließ, und so standen die Zimmer trotz der täglich größer werdenden Wohnungsnot leer. Frau Zillig, zu der ich schon längst Tante Käte sagte, hatte Jutta mitgebracht. Die war zwar erst sieben, für meine Begriffe also kaum dem Kindergartenalter entwachsen, aber immerhin besser als gar nichts. Tante Käte gehörte gewissermaßen zur Familie. Begründer der lebenslangen Freundschaft zwischen unseren Eltern waren wir Kinder gewesen, genauer gesagt ich.
Es muß etwa im dritten Kriegsjahr gewesen sein, als ich mit Jutta auf unserem Balkon hockte und Friseur spielte. Wir hatten schon sämtliche Puppen und den Plüschhund skalpiert, als ich auf den Einfall kam, meine Künste nun auch am lebenden Objekt auszuprobieren. Jutta hatte nichts dagegen, und so schnitt ich versuchsweise ein paar von ihren blonden Löckchen ab. Die waren sowieso zu lang. Nun sah die ganze Frisur aber irgendwie schief aus, also mußten auf der anderen Seite auch Haare runter. Die waren leider ein bißchen zu kurz geworden, und in dem Bemühen, die Symmetrie wieder herzustellen, schnippelte ich so lange herum, bis Juttas Locken verschwunden und die Haare auf doppelte Streichholzlänge gekürzt waren. Jutta fand das schön, weil es jetzt nicht mehr beim Kämmen ziepte. Stolz präsentierte sie sich ihrer Mutter. Den Entsetzensschrei höre ich heute noch! Von Omi bekam ich erst einmal Dresche, anschließend Stubenarrest und zusätzlich die Auflage, bis zu meiner Konfirmation niemals wieder eine Schere anzufassen. Als Mami abends von meiner Schandtat hörte, bewaffnete sie sich mit dem Alpenveilchentopf, den Uroma vor zwei Tagen mitgebracht hatte, und klingelte an der gegenüberliegenden Wohnungstür, um in angemessener Form um Entschuldigung zu bitten.
Frau Zillig hatte ihrer ausgefransten Tochter inzwischen einen fachmännischen Haarschnitt machen lassen und nahm die ganze Geschichte nicht sehr tragisch. »Die Haare wachsen doch wieder. Ich koche uns jetzt erst mal einen anständigen Kaffee, aber einen
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