Pellkartoffeln und Popcorn
echten!« Dem Kaffee folgte ein Glas Wein, dann noch eins; gegen Mitternacht trank man Brüderschaft, und als Omi am nächsten Morgen ihre verkaterte Tochter mit Aspirin und sauren Gurken behandelte, dehnte sie ihre Fürsorge auch auf Frau Zillig aus. Aus Frau Zillig wurde somit ›Kätekind‹; Omi bekam ›für alle Fälle‹ den zweiten Wohnungsschlüssel ausgehändigt, und bald befehligte sie die ganze untere Etage. Sie hielt sich nur zurück, wenn Herr Zillig kam, denn vor dem hatte sie einen Heidenrespekt. Er war natürlich auch zu den Fahnen geeilt worden und mußte als ausgebildeter Ingenieur am Bau des Atlantikwalls mithelfen. Diese Tätigkeit behagte ihm keineswegs, aber da er erstens über eine beachtliche Beredsamkeit verfügte und zweitens über ein ausgesprochenes Organisationstalent, beauftragte man ihn mit dem möglichst reibungslosen Funktionieren des Nachschubs. Im Rahmen dieser kriegswichtigen Tätigkeit war er mit allen denkbaren Vollmachten ausgestattet, kam überall hin, wo kein normaler Sterblicher mehr seinen Fuß hinsetzen durfte, hatte Beziehungen von Italien bis nach Dänemark und organisierte nicht nur Stahl und Beton, sondern auch Käse und Mortadella. Einmal waren es auch hundert Meter Fallschirmseide, aus denen Tante Else für uns alle Sommerkleider nähte. Allerdings mußte sie den Stoff doppelt nehmen, und selbst dann sah man immer noch eine ganze Menge durch!
Tante Käte und Mami verstanden sich prächtig. Sie waren gleichaltrig, hatten beide nichts für Häkeldeckchen, Kaffee-Ersatz und Hitler übrig, lasen Remarque und Thomas Mann, die schon längst verboten waren, liebten Jazz, was auch verboten war, und hörten Radio London, was erst recht verboten war!
›Kätekind‹ sah also nach dem Rechten, fand alles in Ordnung – wieso auch nicht? Omi hatte ja den Schlüssel, goß regelmäßig Geranien auf dem Balkon und die Zimmerlinde und wischte einmal in der Woche Staub – und sie lud uns alle zum Abendessen ein. Es gab dänische Butter, holländische Eier, französischen Käse und deutsches Brot. Obwohl der Atlantikwall schon längst überrannt worden war, organisierte Herr Zillig immer noch Nachschub, jetzt allerdings mehr für den eigenen Bedarf. Während des Essens klingelte bei uns drüben das Telefon. Omi hatte darauf bestanden, daß die Flurtüren offenblieben, »damit man es läuten hört, schließlich kann es ja etwas Wichtiges sein.« Tante Else schob sich noch schnell eine Scheibe Käse in den Mund und rannte los. Kurz darauf war sie wieder zurück. »Das war Reni. Ich habe kaum etwas verstanden, die Verbindung war miserabel. Aber sie ist gut angekommen; und in Nizza ist noch alles ziemlich ruhig.«
12
Wieder mal ein Bahnhof! Diesmal war’s der Zoologische. Allmählich kannte ich fast alle. Der Zug stand schon da, Kinder waren kaum zu sehen, dafür um so mehr Soldaten. Omi kämpfte sich zu einer Frau mit roter Mütze durch, die uns zum dritten Waggon schickte. Da standen tatsächlich sechs Kinder, alle älter als ich und jedes mit gottergebener Miene.
»Du bist sicher die kleine Evelyn«, begrüßte mich eine erfreulich jugendliche Rote-Kreuz-Schwester, »und du willst nach Prag.« Ich wollte überhaupt nicht – und nach Prag schon gar nicht. Omi berichtigte den Irrtum.
»Die Kinder kommen alle erst nach Prag in ein Zwischenlager, von dort aus geht es dann weiter«, erklärte die Schwester geduldig, und hängte mir ein Pappschild um, auf dem neben meinem Namen und dem Zielort noch ein paar Zahlen standen. Bekam ich jetzt etwa auch wie Vati eine Feldpostnummer?
Der Abschied von Omi war kurz und schmerzlos, denn es hatte Voralarm gegeben, und der Zug sollte möglichst schnell raus aus der Innenstadt. Wir blieben dann auch prompt wieder in einer Laubenkolonie stehen und verfolgten mit gemischten Gefühlen den Bombenhagel, der auf Berlin herunterprasselte. Hoffentlich hatte Omi es noch bis zum Zoo-Bunker geschafft. Der galt nämlich – neben den U-Bahnhöfen – als absolut sicher.
An die weitere Reise kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern. Wir fuhren und hielten und fuhren und hielten… Mal war keine Kohle für die Lokomotive da, mal durften wir nicht weiterfahren, weil die vor uns liegende Stadt bombardiert wurde, mal war der Zug das Ziel von
Tieffliegern (wir sprinteten ins nächste Kartoffelfeld, wo wir uns in die Furchen warfen), und einmal mußten wir auch einen Zug überspringen, weil während des Umsteigens ein Mitglied unseres Trupps
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