Pellkartoffeln und Popcorn
verlorengegangen war und erst nach einer halben Stunde heulend auf einem ganz falschen Bahnsteig entdeckt wurde. Aber irgendwann waren wir dann doch in Prag. Übernächtigt, erschöpft und abgestumpft. Mami hatte mir viel von den Schönheiten dieser Stadt erzählt. Aber während wir mit den Straßenbahnen zu unserem vorläufigen Ziel fuhren, hatte ich keinen Blick für die weltberühmten Bauwerke. Außerdem hätte ich viel lieber den Funkturm gesehen als den Hradschin.
Das sogenannte Zwischenlager war in einer ehemaligen Schule untergebracht, was sich unschwer an den Wandtafeln erkennen ließ. Möbliert waren die Klassenräume mit doppelstöckigen Feldbetten, einem Tisch und mehreren Stühlen sowie einem Blumentopf. Wohnlicher wurden sie dadurch aber auch nicht.
Uns Neuankömmlinge brachte man in ein Büro, wo wir registriert und gefragt wurden, ob wir Läuse oder Krätze hätten. Läuse kannte ich vom Hörensagen; was Krätze war, wußte ich nicht. »Dann hast du auch keine«, entschied die resolute Dame mit der Hakenkreuzbinde am Oberarm und schickte mich ins Zimmer sieben. Dort standen acht Betten, von denen aber nur eins belegt war. Ein etwa 14 Jahre altes Mädchen starrte mich neugierig an und fragte: »Kommst du oder gehst du?«
»Was meinst du damit? Ich bin eben erst angekommen.«
»Ich will wissen, ob du ins Lager gehst oder wieder zurückfährst.«
»Ich fahre hin.«
»Ach, du Ärmste. Ich war zwei Jahre in so einem Laden und bin froh, daß ich jetzt nach Hause kann. Wir sind nämlich ausgebombt, meine Mutter ist nach Mecklenburg zu meiner Oma gezogen, und ich kann jetzt auch dorthin. Früher haben wir in Hannover gewohnt.«
Das waren ja reizende Aussichten! Anscheinend kam man aus diesen Lagern nur heraus, wenn man ausgebombt wurde, und diese Vorstellung behagte mir nicht im geringsten.
»Ist es denn so schlimm im Lager?«
»Kommt drauf an! Wenn man einen vernünftigen Lagerleiter hat, kann es sogar ganz nett sein. Wir hatten aber eine alte Krähe, bei der wir überhaupt nichts durften. Wo kommst du denn hin?«
»Nach Bad Podiebrad.«
»Kenne ich, ist so eine Art Kurort mit altmodischen Häusern.« Für Architektur interessierte ich mich nicht.
»Wie lange müssen wir eigentlich hierbleiben?«
»Keine Ahnung. Das kann einen Tag dauern oder eine Woche, je nachdem, wann die Herde groß genug ist, um einen Leithammel zu kriegen. Ich meine natürlich eine Begleitperson, die den Transport wegbringt.«
Inzwischen kam ich mir vor wie ein Paket, das man beliebig hin und herschickte. Zum Glück brauchte ich nur zwei Tage zu warten, dann trudelten noch vier weitere Mädchen ein, die ebenfalls nach Podiebrad oder doch wenigstens in einen nahegelegenen anderen Ort fahren mußten. Leider gehörte nicht eine davon zu meiner Schule. Unser ›Leithammel‹ war 17 Jahre alt, trug BDM-Kluft und ließ sich mit ›Mädelgruppenführerin‹ anreden. Ich hatte die Umgangsformen in diesem Verein schon fast wieder verlernt und handelte mir einen Rüffel ein, als ich das bezopfte Wesen ahnungslos Sigrid nannte. ›Mädelgruppenführerin‹ Sigrid kümmerte sich dann auch herzlich wenig um mich, als wir Bad Podiebrad erreichten. »Bringt die Kleine zu ihrer Schule, ihr kennt euch ja hier aus!« befahl sie den beiden Mädchen, die zusammen mit mir ausstiegen. Die waren zwar nicht viel älter als ich, lebten aber schon länger hier unten und hatten nur aus familiären Gründen für ein paar Tage nach Hause fahren dürfen. Jetzt kamen sie zurück.
»Wo mußt du denn überhaupt hin?« erkundigte sich die eine und beäugte meinen schon reichlich lädierten Papp-Wegweiser, den ich noch immer umgehängt trug. »Gertraudenschule? Kenne ich gar nicht. Wo soll denn die sein?«
»Ich w-w-weiß das d-d-doch nicht.«
»Nun heul bloß nicht, wir werden deinen Laden schon finden.« Das andere Mädchen hatte noch einmal gründlich den abgegriffenen Zettel studiert. »Hier stehst’s doch: Haus Heinfried.«
»Das ist doch dieser alte Schuppen hinten am Park. Genau das nächste Ende von hier!« stöhnte die ältere der beiden Ortskundigen. »Na dann Abmarsch. Die Koffer geben wir im Bahnhof ab, die holt dann schon jemand.«
Gemeinsam trotteten wir los, vorbei an hübschen altmodischen Springbrunnen, weitläufigen Grünanlagen und Jugendstil-Villen, die aus parkähnlichen Gärten lugten. Ich staunte. »Hier haben früher mal reiche Tschechen gewohnt«, klärten mich meine Begleiterinnen auf. »In den schönsten Häusern sitzen
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