Pellkartoffeln und Popcorn
war. Meine Kenntnisse über das Leben in einem Kinderheim – und um etwas Ähnliches handelte es sich hier doch wohl – stammten ausnahmslos aus Jungmädchenbüchern, und darin ging es meist sehr turbulent zu. Hier herrschte aber Grabesruhe.
Fräulein Meyer hatte mich fürs erste in ihre Obhut genommen und klärte mich auf. Danach befand sich nahezu die gesamte Belegschaft des Hauses einschließlich des schuleigenen Dackels Balduin im Sommerlager, hundert Kilometer von Bad Podiebrad entfernt. »Die sind schon seit einem Monat dort und würden am liebsten gar nicht mehr zurückkommen. Es ist aber auch wirklich herrlich da unten.
Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, bringe ich dich selber hin, dann kann ich wenigstens auch noch ein paar Tage da bleiben.«
Meine Koffer wurden gar nicht erst vom Bahnhof abgeholt, denn am nächsten Tag saß ich schon wieder im Zug, allmählich davon überzeugt, den Rest meines Lebens in Eisenbahnwaggons verbringen zu müssen.
Während der Fahrt machte mich Fräulein Meyer mit den Gepflogenheiten des Lagerlebens vertraut, soweit es sich um den normalen Alltag handelte. Im Sommerlager galten andere Regeln. Ich erfuhr, daß in Bad Podiebrad zwölf Berliner Gymnasien untergebracht waren, alle mit stark verminderter Schülerzahl, denn die meisten Kinder hatten zu Beginn der allgemeinen Evakuierung bei Verwandten Schutz gesucht. Das Goethe-Lyzeum bestand derzeit nur aus 52 Schülerinnen aller Altersstufen. Unterrichtet wurden die Berliner Kinder gemeinsam, natürlich in die jeweiligen Klassen unterteilt; und das Lehrerkollegium war ähnlich bunt durcheinandergewürfelt. Nach Schulschluß trennte man sich und marschierte wieder in ›sein‹ Lager und damit in ›seine‹ Schule zurück. Die Mahlzeiten fanden ebenfalls außerhalb des Hauses statt, und zwar an vier verschiedenen Stellen. Jeweils drei Schulen teilten sich eine Kantine; und jede Schule hatte eine halbe Stunde Zeit zum Essen. Jetzt wurde mir auch der rätselhafte Dialog klar, den meine beiden Begleiterinnen gestern geführt hatten. »Es wird dir bestimmt bei uns gefallen«, beteuerte Fräulein Meyer schließlich, »die Mädchen sind eigentlich alle nett, es herrscht eine prima Kameradschaft, und auch Frau Doktor Hagen ist in Ordnung. Sie hat schon so manche Dummheit ausbügeln müssen, und oft genug drückt sie nicht nur ein Auge zu, sondern alle beide.«
13
Der Bahnhof, den wir nach knapp dreistündiger Fahrt erreichten, war klein, bunt und hatte einen unaussprechlichen Namen. Anscheinend war der Ort zu unbedeutend, um ›eingedeutscht‹ zu werden. Bevor wir in den etwas klapprigen Kutschwagen stiegen, kaufte ich mir an einem Gemüsestand eine große grüne Gurke, die man unbegreiflicherweise ohne Marken bekam, aß sie ratzekahl auf und verbrachte den größten Teil der darauffolgenden Nacht auf der Toilette!
Das Wägelchen, gezogen von einem schwarzen Pony und befehligt von einem halbwüchsigen Knaben namens Pavel, zuckelte in gemütlichem Tempo eine ziemlich staubige Landstraße entlang, rechts und links Felder, im Hintergrund Wald. Dann ging es links ab, die Straße verjüngte sich zu einem besseren Trampelpfad und endete schließlich vor einer großen, sanft abfallenden Wiese, auf der wie hingestreut etwa ein Dutzend farbiger Holzhütten standen. Etwas abseits davon befand sich ein steinerner Flachbau, aus dessen Schornstein Rauch stieg. Eigentlich fehlten jetzt nur noch die sieben Zwerge.
Es waren aber mehr als sieben, die jetzt unsere Kutsche umringten. Außerdem waren es keine Zwerge, sondern unzweifelhaft Kinder weiblichen Geschlechts.
»Ich habe euch Zuwachs mitgebracht«, erklärte Fräulein Meyer und winkte ein Mädchen mit Pagenkopf und Sommersprossen heran, »Verstärkung für die erste Klasse.«
»Au prima!« freute sich der Pagenkopf, »dann ist ja das Gleichgewicht zu den Zweitkläßlern endlich wieder hergestellt. Die dämlichen Gänse triezten uns sowieso immer. Komm mit, ich zeige dir unsere Baracke.«
Sie führte mich zu einem blauen Holzhaus, stieß mit dem Fuß die quietschende Tür auf und meinte: »Such dir ein Bett aus, aber nicht das am Fenster, da regnet es manchmal durch.«
Das Innere der Hütte bestand aus einem schmalen Gang, von dem drei Türen abgingen. Sie führten in zwei größere und einen kleinen Raum. »In dem kleinen Zimmer schläft Brigitte, die hat bei uns die Aufsicht. Sie spinnt zwar ein bißchen, ist aber sonst ganz in Ordnung.«
»Warum spinnt sie?«
»Weil sie dauernd
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