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Pelte, Reinhard

Pelte, Reinhard

Titel: Pelte, Reinhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inselbeichte
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Erkerfenster in den Hofplatz.
    »Verstanden sich die beiden Geschwister?«, fragte Jung nachdenklich.
    »Es war die pure Freude zu sehen, wie die beiden miteinander umgingen. Das Wort Geschwisterliebe traf hier wirklich zu. Selten, eigentlich gar nicht mehr, habe ich so etwas erlebt.«
    Jung hätte schwören können, dass er die Wahrheit sagte. Der Klang seiner Stimme war klar und kam von Herzen. Er verspürte einen Kloß im Hals, schalt sich sentimental und ermahnte sich, bei der Sache zu bleiben und sich zu konzentrieren.
    »Was ist aus der Familie geworden? Ich hörte, sie sei verzogen?«
    »Von wem haben Sie das?«
    »Von ihren Nachfolgern auf dem Hof.«
    »Ach, von denen«, meinte der Klavierlehrer wegwerfend. »Eine Tragödie begann, glauben Sie mir«, fuhr er traurig fort. »Die Eltern trugen schwer an dem Verlust ihrer Tochter, ungeheuer schwer. Es drückte sie zu Boden. Die Mutter machte sich Vorwürfe, der Vater auch, beide sich gegenseitig. Das Geschäft und die Landwirtschaft fingen an darunter zu leiden. Der Schwung war weg. Sie kamen ins Straucheln. Sie verkauften und zogen weg in den Süden. Später hörte ich, ich weiß gar nicht mehr von wem, dass sie sich getrennt haben. Die Mutter soll jetzt irgendwo in Bayern oder Österreich leben, ich weiß nicht wo genau da. Der Vater ist ausgewandert, nach Australien.«
    »Und der Sohn?«
    »Er machte nach dem Abitur eine Lehre als Hotelkaufmann hier, im besten Hotel am Platz. Ich sprach noch hin und wieder mit ihm, wenn wir uns auf der Straße begegneten. Er wollte nach seinem Abschluss ebenfalls nach Australien auswandern.«
    »Welchen Eindruck machte er auf Sie, nachdem seine Schwester verschwunden war?«
    »Er war noch immer freundlich. Aber ich spürte eine unberührbare Verschlossenheit hinter seiner Freundlichkeit. Es tat mir in der Seele weh. Ich glaube, er konnte seine Trauer nicht aushalten und versteckte sie da, wo niemand hinkam, nicht einmal er selbst.« Jungs Gegenüber schüttelte den Kopf. Dann atmete er kurz und heftig ein und richtete sich auf.
    »Haben Sie noch weitere Fragen? Ich würde gern Schluss machen. Ich erwarte bald einen Schüler.«
    »Selbstverständlich. Wenn mir noch Fragen einfallen, melde ich mich bei Ihnen. Danke, dass Sie bereit waren, mir zu helfen. Vielen Dank.«
    Jung merkte, dass der Klavierlehrer allein sein wollte, und fügte sich seinem Wunsch ohne Zögern. Er nahm seine Jacke und sie verabschiedeten sich. Jung verließ das Haus und trat hinaus auf den kleinen Platz. Der eisige Wind, der durch den engen Schlossgang fegte, schockierte ihn und trieb ihm Tränen in die Augen. Sie mussten schon dagewesen sein, denn normalerweise ging das bei ihm nicht so schnell.
    Jung entdeckte ein kleines Café. Der Anblick erweckte in ihm die Vorstellung von Wärme und Heimeligkeit. Beides glaubte er jetzt nötig zu haben. Er beschloss, eine Pause einzulegen und eine Tasse Kaffee zu trinken, bevor er den Heimweg antrat. Er betrat den Gastraum, legte seine Jacke ab und setzte sich auf ein altes Sofa. Die Möblierung war aus alten Beständen wahllos zusammengestellt worden. Die einzigen Kriterien für die Auswahl schienen Ansehnlichkeit, Funktionstüchtigkeit und ein Alter über 30 Jahre zu sein. Nur der Kaffee war modern, weil er aus einer Maschine der neuesten Generation kam, also heiß und sehr aromatisch. Nachdem das Getränk alle seine Erwartungen übertroffen hatte, bestellte Jung noch ein Stück Obstkuchen mit Schlagsahne in der Hoffnung, die gleiche Qualität zu erhalten. Er wurde nicht enttäuscht. Seine Traurigkeit begann langsam zu schwinden.
     
    *
     
    Nachmittags saß Jung in seinem Bürosessel und ließ die Erkenntnisse, die er aus Nordfriesland mitgebracht hatte, Revue passieren. Er war aufgewühlt. In seinem Hinterkopf rumorte ein undeutlicher Gedanke. Er lag hinter seinen Gefühlen versteckt, und er vermochte nicht, ihn dahinter hervorzuzerren.
    Jung widmete sich erst einmal dem Nächstliegenden. Er rief das Amt des Kreises Nordfriesland in Husum an. Im Ordnungsamt erkundigte er sich unter Berufung auf Amtshilfe nach dem Verbleib der Familie Carl. Der zuständige Beamte rief kurze Zeit später zurück und teilte ihm mit, dass die Frau vor acht Jahren, nach der Scheidung von ihrem Mann, nach Füssen im Allgäu umgezogen sei. Der Mann sei ungefähr zur gleichen Zeit nach Australien ausgewandert, der Junge ihm später nachgefolgt. Jung schilderte ihm den Grund seines Interesses an der Familie, und der Beamte bot sich an,

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