Pelte, Reinhard
eine musische Ausbildung haben sie sich etwas kosten lassen. Die Kinder machten da gerne mit. Das Mädchen und ihr Bruder waren bei den Lehrern beliebt. Sie waren fleißig und lernten gut, waren aufgeweckt und freundlich.«
»Fast zu schön, um wahr zu sein«, kommentierte Boll, der selbst keine Kinder hatte und, wenn er über Kinder sprach, nur die abschreckenden Exemplare aus seiner Verwandtschaft und Bekanntschaft zitierte.
»Ja, das dachte ich auch, als ich die Gesprächsprotokolle las«, erwiderte Jung. Er hatte eigene Kinder groß gezogen, und war mit dem Ergebnis seiner Bemühungen zufrieden, obwohl er manchmal bezweifelte, ob sein Anteil in diesem Zusammenhang überhaupt erwähnt werden sollte. Oft dachte er, das Ergebnis wäre noch weitaus besser ausgefallen, wenn er seine Anstrengungen gänzlich eingestellt und sie einfach nur gefüttert, gewärmt, beschützt und gestärkt hätte.
»Was ist mit den Nachbarn? Habt ihr die ordentlich in die Mangel genommen?«
»Klar. Die ländliche Nachbarschaft ist aufmerksam und kritisch. Deswegen kam ihr Bedeutung zu. Die Kollegen wollten ja unbedingt herauskriegen, ob die Kleine noch einmal gesehen worden ist. Natürlich wurden sie zur Familie des Mädchens befragt. Übereinstimmend positiv, ohne Ausnahme. Das ist bei dem neumodischen Kram, den die Familie betreibt, schon bemerkenswert.«
Es entstand eine Pause, und sie griffen beide, als hätten sie sich verabredet, zu ihren Gläsern.
»Keine Kinken, keine Macken, keine Flecken. Selten, äußerst selten. Was meinst du?«, fragte Boll schließlich.
»Ja, alles verdächtig glatt. Auf der anderen Seite muss man festhalten, dass die Eltern hart und erfolgreich gearbeitet haben, und das mit Lust und Liebe. Eine glückliche und seltene Kombination, wie mir scheint. Eltern färben auf ihre Sprösslinge ab. Es ist sozialpädagogisch nachgewiesen, dass der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder der stärkste ist, den es gibt, vor allen anderen wohlgemerkt.«
»Ist Sozialpädagogik eine Wissenschaft? Das ist ja mal was ganz Neues«, höhnte Boll.
»Was hast du gegen Sozialpädagogik, Klaus?«
»Ich kenne eine Sozialpädagogin, die macht erst einmal ’nen Stuhlkreis, wenn einer ihrer Zöglinge auf ihrer Toilette nicht pinkeln will. Was soll so’n Scheiß?« Boll schüttelte den Kopf. »Wo fängst du nun an, Tomi?«, kam Boll wieder zur Sache. »Ich meine, du besuchst den Hof und redest mit der Familie und der Nachbarschaft. Das Ereignis kann nicht spurlos an den Menschen vorübergegangen sein. Aus dem späten Echo auf das Geschehen lassen sich vielleicht Rückschlüsse auf das Geschehen selbst ziehen.«
»Nach so vielen Jahren?« Jung wiegte bedenklich den Kopf. »Wir leben in 2006. Holtgreve hätte vorher damit kommen müssen.«
»Richtig. Aber nun ist es so, wie es ist. Was bleibt dir sonst übrig?«
»Du hast recht. Wunschdenken bringt nichts.«
»Schnapp dir ein Auto und mach einen Ausflug nach Husum. Das ist ’ne schöne Abwechslung in deinem tristen Büroalltag.«
»Bei dem Wetter sind meine Neigungen, das Haus zu verlassen, eher unterentwickelt«, erwiderte Jung griesgrämig.
»Ich kenn dich doch. Du machst das.«
»Zumindest überredest du mich dieses Mal nicht, in die Wildnis zu fahren.«
»Wer weiß das so genau. Manchmal ist die Wildnis ganz nahe.«
»Wie meinst du das?« Ein neuer Ton in Bolls Stimme beunruhigte Jung. Boll trank einen Schluck, nahm noch einen Käsehappen und sah Jung in die Augen.
»Darf ich mal persönlich und ernst werden, Tomi?«
»Bitte.« Jungs Stimme hatte noch nicht alle Leichtigkeit verloren. Aber in ihr schwang eine erste Besorgnis mit, die er lieber nicht gehabt hätte, und die er nur bereit war zu ertragen, weil er fühlte, es seinem Gastgeber schuldig zu sein.
»Du hast mich vorhin nach Ulla gefragt. Ich glaubte bis jetzt immer, ich würde sie kennen. Aber in letzter Zeit fühle ich mich, als bewegte ich mich in einem Minenfeld.« Boll legte eine Pause ein.
»Und weiter?«
»Wir sind jetzt, ich weiß schon gar nicht mehr wie viele Jahre verheiratet. Mittlerweile glaube ich, sie liebt nur ihren Kosmetikkoffer und sonst nichts.«
Jung senkte den Kopf und legte die Hände vor sein Gesicht. Nur so konnte er verhindern, nicht lauthals loszulachen und seinen Kollegen eventuell zu verletzen. Er rieb sich die Nase und lenkte den Lachreiz in einen Niesreiz um, dem er sich hemmungslos ergab.
Nachdem er sich beruhigt hatte, sagte er aufgeräumt: »Vielleicht erledigt sich dein
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