Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
lächelte.
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Das blasse winterliche Licht über dem Hudson River wurde schwächer, als D’Agosta vor der alten Tür an der Hudson Street ankam. Er hielt einen Augenblick inne, holte ein paar Mal tief Luft und versuchte, sich in den Griff zu bekommen. Er hatte sich genau nach Pendergasts komplizierten Anweisungen gerichtet. Pendergast war wieder einmal umgezogen – offenbar war er entschlossen, Diogenes stets einen Schritt voraus zu sein –, und deshalb fragte sich D’Agosta, allerdings ohne besonders große Neugier, was für eine Verkleidung er dieses Mal wohl gewählt hatte.
Nachdem er sich endlich gefasst und ein letztes Mal umgeschaut hatte, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war, klopfte er siebenmal an die Tür und wartete. Kurz darauf wurde sie von einem Mann geöffnet, bei dem es sich allem Anschein nach um einen Alkoholiker in der letzten Phase seiner Sucht handelte. D’Agosta wusste zwar, dass Pendergast vor ihm stand, war aber wieder einmal von dessen immenser Wandlungsfähigkeit beeindruckt.
Wortlos führte Pendergast ihn ins Haus, verriegelte die Tür hinter sich und ging ihm voraus eine feuchte Treppe hinab in einen übel riechenden Kellerraum mit einem Heizkessel und Heizrohren darin. Ein übergroßer Pappkarton, auf dem sich verschmutzte Decken stapelten, ein Plastikkasten für Milchflaschen mit einer Kerze und ein wenig Geschirr darauf und ein ordentlicher Stapel Lebensmitteldosen vervollständigten das Bild.
Pendergast hob mit rascher Bewegung einen Wischmop vom Boden, worauf ein iMac G5, ausgestattet mit einer drahtlosen Bluetooth-Internetverbindung, zum Vorschein kam. Daneben lag ein Wust zerlesener Dokumente: die fotokopierte Fallakte, die D’Agosta aus der Zentrale entwendet hatte, sowie andere Berichte, die, wie er annahm, aus dem Polizeidossier über den Giftmord an Hamilton stammten. Pendergast hatte offensichtlich alles mit großer Sorgfalt studiert.
»Ich…« D’Agosta wusste nicht genau, wie er anfangen sollte. Er fühlte, wie ihn erneut die kalte Wut packte. »Dieser Scheißkerl. Mein Gott, Margo zu ermorden …«
Er verstummte. Es ließ sich einfach nicht in Worte fassen, welch erschütternden Zorn, welch Aufruhr und Unglauben er in sich spürte. Er hatte nicht gewusst, dass Margo wieder zurück in New York war, und erst recht nicht, dass sie am Museum arbeitete, aber er hatte sie früher gut gekannt. Sie war eine mutige, erfinderische, intelligente Frau gewesen. Sie hatte es nicht verdient, auf diese Weise zu enden: aufgelauert und ermordet in einem dunklen Ausstellungssaal eines Museums.
Pendergast schwieg und hackte auf der Computertastatur herum. Aber sein Gesicht war schweißgebadet, und D’Agosta ahnte, dass dies nicht Teil der Inszenierung war. Auch er verspürte eine ähnliche innere Anspannung.
»Diogenes hat gelogen, als er sagte, dass Smithback das nächste Opfer sein werde«, sagte D’Agosta.
Ohne aufzublicken, griff Pendergast in den Getränkekasten, zog einen wiederverschließbaren Plastikbeutel mit einer Tarotkarte und einem Brief heraus und reichte den Beutel D’Agosta.
D’Agosta warf einen Blick auf die Tarotkarte. Sie zeigte einen hohen, orangefarbenen Backsteinturm, in den mehrere Blitze einschlugen. Der Turm stand in Flammen, und kleine Gestalten stürzten von seinen Zinnen auf die weit darunterliegende Rasenfläche. D’Agosta widmete sich dem Brief.
Ave, frater!
Seit wann sage ich Dir eigentlich die Wahrheit? Man sollte doch meinen, dass Du nach all den Jahren weißt, dass ich ein geschickter Lügner bin. Während Du damit beschäftigt warst, diesen Prahlhans Smithback zu verstecken – und ich muss Dich für Deine Schläue loben, denn ich habe ihn immer noch nicht gefunden –, hatte ich freie Hand, den Tod von Margo Green zu planen, die sich, übrigens, sehr couragiert gewehrt hat.
Habe ich das nicht alles sehr klug ersonnen?
Ich will Dir ein Geheimnis verraten, Bruder: Ich bin in der Stimmung zu beichten. Und deshalb benenne ich Dir mein nächstes Opfer: Lieutenant Vincent D’Agosta.
Amüsant, nicht wahr? Sage ich die Wahrheit? Lüge ich wieder? Was für ein köstliches Rätsel für Dich, lieber Bruder.
Und so sage ich Dir nicht adieu, sondern au revoir.
Diogenes
D’Agosta reichte Pendergast den Brief zurück. Er hatte ein sonderbares Gefühl in der Magengrube. Das war nicht Angst – nein, ganz und gar nicht –, sondern das erneute Aufsteigen von Hass. Er bebte geradezu vor Hass.
»Stellen Sie dem
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