Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
bin doch nicht verrückt, Sie Idiot!« Aber er tat es nicht. Denn ihm wurde klar, in welch unlösbarem Dilemma er sich befand: Je mehr er darauf beharrte, dass er psychisch völlig gesund war, je mehr er sich aufregte, umso mehr bekräftigte er Tisander in seiner gegenteiligen Auffassung. »Ich möchte nur wissen, wie lange ich noch hier sein werde«, sagte er.
»Das wird sich zeigen. Aber ich muss schon sagen, dieser Fluchtversuch führt mich nicht zu der Annahme, dass Sie uns in nächster Zukunft verlassen werden. Er zeigt nämlich einen erheblichen Widerstand Ihrerseits gegen unsere Hilfsangebote. Wir können Ihnen aber erst helfen, wenn Sie mit uns kooperieren, Mr Jones. Und entlassen können wir Sie erst, nachdem wir Ihnen geholfen haben. Wie ich so gern sage: Der Patient ist immer die wichtigste Person bei seiner Genesung.«
Smithback ballte die Fäuste und musste sich gehörig zusammenreißen, dass er Tisander darauf nicht die passende Antwort erteilte.
»Ich muss Ihnen mitteilen, Edward, dass noch ein Fluchtversuch zu gewissen Veränderungen Ihrer häuslichen Arrangements führen wird, die Ihnen möglicherweise gar nicht behagen werden. Mein Rat ist daher: Finden Sie sich mit Ihrer Situation ab und arbeiten Sie mit uns zusammen. Schon gleich zu Beginn habe ich bei Ihnen ein ungewöhnlich hohes Maß an passiv-aggressivem Widerstand wahrgenommen.«
Das liegt daran, dass ich genauso zurechnungsfähig bin wie du. Smithback rang sich ein unterwürfiges Lächeln ab. Wenn er hier rauskommen wollte, dann musste er sehr viel cleverer agieren, so viel stand fest. »Ja, Dr. Tisander. Ich verstehe.«
»Gut, sehr gut! Endlich machen wir Fortschritte.«
Es musste einen Ausweg geben. Wenn der Graf von Monte Christo es geschafft hatte, aus dem Chateau d’If zu entkommen, dann konnte William Smithback jr. erst recht die Flucht aus River Oaks gelingen. »Dr. Tisander, was muss ich tun, um hier rauszukommen?«
»Kooperieren. Sie müssen sich von uns helfen lassen. Zu den Therapiesitzungen gehen, Ihre ganze Energie darauf verwenden, zu genesen, die Selbstverpflichtung eingehen, mit unseren Mitarbeiten und dem Pflegepersonal zusammenarbeiten. Es gibt nur eine Möglichkeit, entlassen zu werden, und zwar mit einem Schreiben in Händen, das meine Unterschrift trägt.«
»Nur eine Möglichkeit?«
»Ganz genau. Ich treffe die endgültige Entscheidung – selbstverständlich auf Grundlage fachkundiger ärztlicher und, wenn nötig, auch juristischer Beratung.«
Smithback sah ihn an. »Juristischer Beratung?«
»Die Psychiatrie dient zwei Herren: der Medizin und dem Gesetz.«
»Das verstehe ich nicht.«
Tisander näherte sich unüberhörbar seinem Lieblingsthema. Seine Stimme nahm einen pontifikalen Klang an. »Ja, Edward, wir müssen uns mit medizinischen wie auch rechtlichen Fragen befassen. Nehmen Sie zum Beispiel Ihren Fall. Ihre Familie, die Sie liebt und die sich um Ihr Wohlergehen sorgt, hat Sie hier eingewiesen. Das ist ein gleichermaßen medizinischer wie rechtlicher Vorgang. Es ist eine gravierende Maßnahme, einen Menschen seiner persönlichen Freiheitsrechte zu berauben, weswegen sie nur mit äußerster Gewissenhaftigkeit ergriffen werden darf.«
»Entschuldigen Sie … haben Sie eben Familie gesagt?«
»Ganz recht. Wer hätte Sie denn sonst einweisen sollen, Edward?«
»Sie kennen meine Familie?«
»Ich habe Ihren Vater kennen gelernt, Jack Jones. Ein wirklich vornehmer Mann. Wir alle wollen nur das Beste für Sie, Edward.«
»Wie hat er ausgesehen?«
Tisander machte eine verdutzte Miene, und Smithback verfluchte sich selbst, weil er eine Frage gestellt hatte, die so offensichtlich verrückt war. »Ich meine, wann haben Sie ihn gesehen?«
»Als Sie hierher gebracht wurden. Er hat alle erforderlichen Papiere unterschrieben.«
Pendergast, dachte Smithback. Dieser verdammte Pendergast …
Tisander erhob sich und streckte die Hand aus. »Und nun, Edward, haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
Smithback ergriff die ihm angebotene Hand. Ihm war der Kern einer Idee gekommen. »Ja, eine.«
Tisander hob die Brauen, während ihm noch immer das gleiche herablassende Lächeln im Gesicht stand.
»Es gibt hier doch eine Bibliothek, nicht wahr?«
»Selbstverständlich. Hinter dem Billardzimmer.«
»Danke.«
Im Hinausgehen erhaschte Smithback einen Blick auf Tisander, der sich hinter seinen riesigen Schreibtisch mit Klauenfüßen setzte, seine Krawatte glatt strich und immer noch selbstgefällig
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