Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
möglicherweise ins Visier nimmt, Vorkehrungen getroffen, dass sie untertauchen können. Das ist Phase eins. Und dies bringt uns zu Phase zwei: Diogenes stoppen. Mein ursprünglicher Plan ist ein absoluter Reinfall gewesen. Aber wie man so sagt: ›Wenn du verlierst, zieh deine Lehren daraus.‹ Die Lektion in diesem Fall lautet, dass ich meinen Bruder nicht allein besiegen kann. Ich habe angenommen, ich würde ihn am besten kennen, dass ich seinen nächsten Schritt voraussagen könnte, dass ich ihn, mit ausreichenden Indizien, selbst stoppen könnte. Ich wurde eines Besseren belehrt – und zwar in katastrophalem Maße. Ich benötige Hilfe.«
»Sie haben mich.«
»Ja, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Aber ich sprach von einer anderen Art Hilfe. Professioneller Hilfe.«
»Nämlich?«
»Ich stehe Diogenes zu nahe. Ich bin nicht objektiv, und ich bin nicht gelassen – vor allem jetzt nicht. Ich habe auf die harte Tour gelernt, dass ich meinen Bruder nicht verstehe und es auch nie tun werde. Daher benötige ich einen Profiler, einen echten Experten, der ein Täterprofil meines Bruders erstellt. Was eine außergewöhnlich schwierige Aufgabe sein wird, weil er ein in psychologischer Hinsicht einzigartiges Individuum ist.«
»Ich kenne mehrere hervorragende Profiler.«
»Irgendeiner wird da nicht reichen. Ich brauche jemanden, der wirklich außergewöhnlich gut ist.« Pendergast wandte sich um und schrieb ein paar Zeilen. »Gehen Sie zum Haus am River Side Drive und geben Sie das hier Proctor, er wird es Constance weiterreichen. Wenn es diese Person gibt, wird Constance sie finden.«
D’Agosta nahm den Brief, faltete ihn und steckte ihn in die Tasche.
»Uns läuft die Zeit davon: Bis zum 28. Januar bleiben uns nur noch zwei Tage.«
»Haben Sie schon irgendeine Ahnung, was das Datum bedeuten könnte?«
»Noch überhaupt keine, nur dass an diesem Tag das Verbrechen meines Bruders seinen Gipfel erreichen wird.«
»Woher wollen Sie wissen, dass er nicht auch bezüglich dieses Datums lügt?«
Pendergast hielt inne. »Ich weiß es nicht. Aber mein Gefühl sagt mir, dass er die Wahrheit sagt. Und im Augenblick ist das alles, was mir verblieben ist: Intuition.«
37
Whit DeWinter III hockte über seinem sieben Kilo schweren Lehrbuch für Differential- und Integralrechnung ganz weit hinten in der Class of 1945 Library an der Phillips Exeter Academy. Er starrte auf eine mathematische Formel, die vollständig aus griechischen Buchstaben bestand, und versuchte, sie in seinen Schädel zu kriegen. Die Mittsemesterprüfung fand in weniger als einer Stunde statt, und er hatte nicht einmal die Hälfte der Formeln auswendig gelernt, die er brauchen würde. Was hätte er dafür gegeben, wenn er am Vorabend gelernt hätte, anstatt derart lange aufzubleiben und mit seiner Freundin Jennifer Gras zu rauchen. Aber gestern Abend war ihm das wie eine gute Idee vorgekommen … Dumm, so dumm. Wenn er bei dieser Prüfung durchfiel, würde sich seine Note in Mathematik von einer Zwei auf eine Drei verschlechtern, und dann müsste er an der staatlichen Uni von Massachusetts anstatt in Yale weiterstudieren, und das wär’s dann gewesen. Er würde nie Medizin studieren können, nie einen anständigen Job bekommen und am Ende in einem kleinen Terrassenhaus in Medford mit irgendeiner Kuh von Ehefrau und einer Bude voller quengelnder Gören sein Dasein fristen…
Er atmete tief durch und vergrub sich wieder in das Lehrbuch, doch seine Konzentration wurde gestört – von einer lauten Stimme in der Nähe einer der anderen Arbeitskabinen. Whit hob den Kopf. Die Stimme kannte er: Das war doch dieses sarkastische Mädchen aus dem Literaturseminar, die kleine Punkerin mit der Retrofrisur und den violetten Haaren … Corrie. Corrie Swanson.
»Was soll das? Sehen Sie denn nicht, dass ich hier lerne?«, hallte die Stimme quer durch das schicke Atrium der Bibliothek.
Whit horchte, konnte aber die leise, fast schon geflüsterte Antwort nicht verstehen.
»Australien? Sind Sie irre?«, hörte Whit die vergrätzte Antwort. »Ich stecke mitten in meinen Mittsemesterprüfungen! Was sind Sie – irgend so ein Perverser?«
Ein paar Studenten, die in der Nähe saßen, mahnten zur Ruhe. Froh über die Ablenkung spähte Whit über die Kante seiner Arbeitskabine. Ein paar Meter entfernt beugte sich ein Mann in dunklem Anzug über eine Arbeitskabine.
»Das hat er Ihnen gesagt? Ja, richtig, dann zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis.« Weiteres Gemurmel.
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