Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
tiefe Stille. Von Zeit zu Zeit hatte sie mit den Fäusten gegen die Tür gehämmert und geschrien, einmal hatte sie sogar mit dem Stuhl dagegengeschlagen, immer und immer wieder, bis der Stuhl ihr in den Händen zerbrach. Niemand war gekommen.
Die schmutzig kreidegraue Fläche des Wassers nahm einen leicht rötlichen Farbton an: ein intensives Leuchten über der Dünung des Atlantiks. Ein scharfer Wind fegte über das dunkle Meer, auf dem sich die hellen Flecken der Schaumkronen bildeten. Fahnen gefrorenen Schnees – oder war das Sand? – peitschten übers Land.
Viola setzte sich auf. Mit einem Mal war sie hellwach. Sie hatte ein gedämpftes Geräusch gehört – eine Tür, die sich öffnete. Sie rannte zur Tür ihrer Zelle und presste das Ohr daran. Von unten drangen ganz leise Geräusche herauf: Schritte, das Schließen einer Tür.
Er war wieder da.
Plötzlich beschlich sie große Angst, und sie blickte durch den Raum zum Fenster. Die Sonnenscheibe zog gerade eben über dem grauen Atlantik herauf, und genauso rasch hob sie sich in eine dünne schwarze Sturmwolke. Er hatte es also tatsächlich nicht versäumt, im Morgengrauen zurückzukommen. Rechtzeitig zur Hinrichtung.
Viola schürzte die Lippen. Wenn er glaubte, er könne sie umbringen, ohne dass sie sich wehrte, dann hatte er sich gewaltig getäuscht. Sie würde ihn bis auf den Tod bekämpfen… Voll innerer Beklemmung sagte sie sich, wie töricht ihr Draufgängertum war, denn sie richtete es gegen einen Mann, der mit großer Sicherheit eine Schusswaffe dabeihatte und genau wusste, wie man damit umging.
Sie kämpfte gegen die jäh aufsteigende Panik an und war kurz davor, zu hyperventilieren. Eine eigentümliche Mischung widerstreitender Gefühle breitete sich in ihr aus: einerseits das dringliche, instinktive Verlangen zu überleben, egal, zu welchem Preis; andererseits das tiefsitzende Bedürfnis, falls der Tod tatsächlich nahe war, würdevoll und nicht unter Geschrei und Gezerre zu sterben.
Sie hörte weitere Laute; instinktiv warf sie sich auf den Boden und horchte durch den winzigen Spalt zwischen Tür und Türschwelle. Die Geräusche waren immer noch leise und gedämpft.
Sie stand auf, lief ins Badezimmer und riss das Toilettenpapier aus dem Halter, rollte es mit einer heftigen Schüttelbewegung ihrer Hand ab und zog die Pappröhre heraus. Dann rannte sie zum Türrahmen zurück, legte sich das eine Ende der kleinen Röhre ans Ohr und drückte das andere Ende gegen die lange Spalte in der Türeinfassung.
So konnte sie viel besser hören: das Rascheln von Kleidung, das Hinstellen mehrerer Gegenstände, das Geräusch, wie ein Riegel geöffnet wurde.
Sie vernahm ein jähes, scharfes Einatmen. Als Nächstes ein langes, langes Schweigen. Fünf Minuten verstrichen.
Dann erklang ein merkwürdiges, erschreckendes Geräusch: ein tiefes, gepeinigtes Wehklagen, wie das warnende Miauen einer Katze. In einer Art Singsang schwoll es an und wieder ab, bis es plötzlich sehr laut wurde, sich zu einem Schrei von reiner, unverfälschter, absoluter Angst steigerte. Es war nicht menschlich, es war der Schrei der lebenden Toten, es war der grauenerregendste Laut, den sie je gehört hatte – und er kam von ihm.
56
Das Taxi näherte sich dem Gebäude der New York Times und parkte direkt am Bordstein. Ungeduldig unterschrieb Smithback die Kreditkartenquittung – der Fahrpreis betrug 425 Dollar – und bezahlte mit der Karte, die er aus seiner Wohnung geholt hatte. Er gab den Quittungszettel dem Taxifahrer zurück, der ihn mürrisch entgegennahm. »Und wo bleibt mein Trinkgeld?«
»Machen Sie Witze? Für die Summe, die ich da eben bezahlt habe, hätte ich auch nach Aruba fliegen können.«
»Schauen Sie, Kumpel, ich hab Spritkosten, Versicherungskosten, Ausgaben ohne Ende…«
Smithback knallte die Tür zu, rannte ins Gebäude und spurtete zum Aufzug. Er wollte nur kurz zu Davies rauf, seinen Chef wissen lassen, dass er zurück in der Stadt war, sich vergewissern, dass sein Job nicht auf dem Spiel stand – und dann sofort auf direktem Weg zum Museum und zu Nora rüber. Es war Viertel nach neun; sie war nicht in der Wohnung gewesen, weshalb er annahm, dass sie schon zur Arbeit gefahren war.
Er drückte den Knopf für den 33. Stock und wartete, während der Aufzug zum Verrücktwerden langsam hinaufschlich. Schließlich kam er an; Smithback trat aus der Kabine, eilte im Laufschritt über den Flur und blieb vor Davies’ Tür gerade so lange stehen, damit er
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